Walter Sittler liest Kurzgeschichten von Patricia Highsmith Foto: dpa

Wie immer beim Stuttgarter Festival der erfundenen Verbrechen sind auch dieses Jahr etliche Veranstaltungen teils seit Wochen ausverkauft. Man muss sich sputen, das Angebot der 8. Stuttgarter Kriminächte ist so vielfältig wie noch nie. Auftaktstar Nele Neuhaus muss grippehalber allerdings passen, sie wird vom Schauspieler Tim Bergmann vertreten.

Stuttgart - Was gibt es Schöneres als ein grausiges Verbrechen? Diese Frage klingt bei einem Blick auf die Website der an diesem Dienstag beginnenden 8. Stuttgarter Kriminächte gar nicht mehr absurd: Wie immer beim Festival der erfundenen Verbrechen sind auch dieses Jahr etliche Veranstaltungen teils seit Wochen ausverkauft. Etwa der Auftakt, zu dem die Bestsellerautorin Nele Neuhaus grippehalber nicht kommen kann. Der Schauspieler Tim Bergmann, der in den Neuhaus-Verfilmungen den Kommissar Oliver von Bodenstein mimt, liest an ihrer Stelle ab 20 Uhr im Friedrichsbau-Varieté aus dem Roman „Im Wald“. Oder der Abend mit dem Briten Simon Beckett in der Körperwalten-Ausstellung in der Schleyer-Halle. Am 17. März stellt Veit Heinichen auf Schloss Solitude seinen Roman „Die Zeitungsfrau“ vor, am 18. März präsentiert das österreichische Genreschwergewicht Bernhard Aichner im Krematorium auf dem Pragfriedhof „Totenrausch“: Für all diese und acht der weiteren Veranstaltungen gibt es allenfalls noch einen Kartenschwarzhandel.

So eindrucksvoll der Spaß am Krimi damit auch bekundet wird, so schnell könnte man ihn allen Beteiligten vermiesen. Durch die Frage nämlich, was denn der Grund sei, sich vergnügt mit Schrecklichem auseinanderzusetzen. An einer schlüssigen Antwort darauf scheitern seit Jahrzehnten Autoren, Kritiker, Genrehistoriker, Krimiverächter, Psychologen und Soziologen.

Selbst ein so kluger Kopf wie der britische Krimiautor und -kritiker Julian Symons musste passen, als er 1972 in seinem im Lauf von Jahrzenten mehrfach ergänzten und überarbeiteten Standardwerk „Bloody Murder“ die Gründe des Krimilesens ein für allemal fassen wollte. Denn Symons zählte in seinem Abriss der Entwicklung von der knobelspielartigen Detektivgeschichte hin zum entfesselten Krimi zwar viele Gründe fürs Krimischmökern auf, vom symbolischen Nacherleben frühkindlicher Schockerfahrungen über das Symbolspiel für die Erbsünde bis hin zur Sehnsucht nach Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung durch Verbrechensaufklärung. Völlig wiederfinden wird sich aber kaum ein Leser in solchen Erklärungen. Wohl jeder Krimifreund hat das amorphe Gefühl, dass da beim Lesen Ängste, Sehnsüchte, Rollenfantasien immer wieder neu durcheinander gehen.

Krimis als Spurensuche des Unfassbaren

Vielleicht hat der Erfolg der Kriminächte genau mit dieser Unerklärbarkeit des Phänomens zu tun. Vielleicht geht er über die erprobte Formel „Spannende Geschichten, vorgestellt an ungewöhnlichen Orten“, die auch das neue Geschäftsführungstrio Eva Hosemann, Bine Schulz und Stephan Raab so treu beherzigt wie das Gründungsteam um Ursula Sobek, ein wenig hinaus. Möglicherweise suchen Krimifreunde auf Lesungen längst nicht mehr bloß die Begegnung mit den diversen Autoren. Wie die jüngste Queen of Crime und der neueste Star im Thrillergeschäft aussehen, sprechen, eigene Texte lesen, lässt sich inzwischen ja schnell via Youtube herausfinden –, sondern weiteren Aufschluss über das, was einen eigentlich zu Krimis hinzieht und manchmal ein Leben lang nicht mehr loslässt.

Die Begegnung mit Autoren und anderen Lesern wäre dann eine Art Spurensuche des psychologisch Unfassbaren in Blick und Stimme, Worten und Gesten der anderen. Vielleicht auch eine Selbstvergewisserung mitten unter größtenteils harmlosen anderen Menschen, dass die eigene Krimilust mysteriös, aber nicht bedrohlich ist.

Jedenfalls haben die Stuttgarter Kriminächte, auch wenn sie ihr Hauptaugenmerk nach wie vor auf deutschsprachige Literatur legen, ihr Angebot noch nie so breit gefächert. Erstmals werden nicht nur teils brandaktuelle Krimis vorgestellt wie der Politthriller „Der Block“ des Franzosen Jérôme Leroy (21. März, 20 Uhr, Rosenau), der vom Durchmarsch der extremen Rechten erzählt, oder Franz Doblers „Ein Schlag ins Gesicht“ (23. März, 19.30 Uhr, Stadtteilbibliothek Bad Cannstatt), der sich um Stalking, Imagekosmetik und Filz in der Großstadt dreht. 2017 kommen endlich auch Klassiker zum Zug, wird in die lange, facettenreiche Geschichte der Kriminalliteratur geschaut.

Vielen alten Autoren machen jüngere nichts vor

In der neuen Reihe „Prominente Kriminalisten und ihr Lieblingskrimi“ liest Walter Sittler Kurzgeschichten der 1995 gestorbenen Patricia Highsmith (am 20. März um 19.30 im Lambert Flagship Store, eine bereits ausverkaufte Veranstaltung), und zuvor noch kann der Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag den Genrepionier Rex Stout (1886-1975) einen seiner ungewöhnlichsten Nero-Wolfe-Romane präsentieren, „Es klingelte an der Tür“ (16. März, 19.30 Uhr, Gartencenter Kriesten in Leonberg; der Autor dieses Artikels moderiert). Wer dem Wesen der Krimifaszination nachspüren will, kommt eben am Blick in die Vergangenheit nicht vorbei. Der Krimiumsatz in Deutschland mag höher sein denn je, aber literarisch und spannungstechnisch macht vielen alten Autorinnen und Autoren keiner der heutigen etwas vor.

Um bei der Trennung von Spreu und Weizen zu helfen, verleihen die Kriminächte auch dieses Jahr wieder dotierte Auszeichnungen. Zum Abschluss werden der Hypovereinsbank-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres (3000 Euro), der Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis (1500 Euro) und der Wittwer-Debütkrimipreis (1000 Euro) verliehen.

Die jetzt noch geheimen Preisträger, die eine Jury aus dem Genre geneigten Buchhändlern und spezialisierten Krimikritikern aussucht, werden anwesend sein und aus ihren Werken lesen. Auf jeden Preisträger wird eine Laudatio gehalten, obendrein gibt es Musik und kleine Interviews. Für diese „Kriminelles Finale“ genannte Minigala (27. März, 19.30 Uhr, Renitenztheater) gibt es allerdings noch Karten. Wen wundert’s: Krimifreunde finden Raub und Betrug eben erst mal spannender als die Entgegennahme des ehrlich Verdienten.