Das Unternehmen betreibt unter anderem für Mercedes die Fläche am Münchner Odeonsplatz. Foto: Liganova

Die Innenstadt wird für den Handel eine neue Bedeutung gewinnen, sagen Handelsexperten der Firma Liganova. Das Unternehmen will auch in Stuttgart mit modernen Verkaufskonzepten von sich reden machen.

Die Innenstadt wird für den Handel eine neue Bedeutung gewinnen, sagen Mathias Ullrich und Torsten Dietz, die beiden Geschäftsführer von Liganova. Die Firma, die am Stuttgarter Herdweg ihren Sitz hat, ist spezialisiert auf Gestaltung und Umsetzung von Handelsflächen der Zukunft und betreibt unter anderem für Mercedes die Fläche am Münchner Odeonsplatz. Ein Konzept, das man wahrscheinlich sehr bald mit anderen Marken in Stuttgart sehen wird. Im Interview erklären sie, was das bedeutet und warum es in Zukunft ohne das Thema Nachhaltigkeit im Handel nicht mehr geht.

Herr Dietz, Herr Ullrich, wohin geht die Reise im Handel? Und was ist dabei der Anteil Ihrer Firma?

Mathias Ullrich Wir helfen den Unternehmen dabei, ihre Marke zielgruppengerecht und authentisch zu inszenieren, von dem physischen Store über digitale Kanäle.

Was ist das derzeit eines der Topthemen?

Torsten Dietz In der Pandemie hat sich das Thema Nachhaltigkeit immer stärker herausentwickelt. Wir haben uns aber auch schon davor, beispielsweise mit Nespresso, darüber unterhalten, welche Materialalternativen es gibt. Aber jetzt hat sich dieses Interesse noch einmal verstärkt. Dabei geht es jetzt nicht nur um die Materialien, sondern um den kompletten Kreislauf von Wiederverwertung.

Das Lieferkettengesetz traf in der Wirtschaft auf heftige Ablehnung. Hat sich das verändert?

Torsten Dietz Ja. Da wirken zwei Effekte. Erstens fragt der Verbraucher fair gehandelte und nachhaltige Produkte nach, zweitens ist es inzwischen vielen Unternehmen ein ernsthaftes Anliegen. Aber solche Entwicklungen müssen immer von oben nach unten kommen. Das Topmanagement muss es vorgeben.

Welchen Anteil an solchen Veränderungsprozessen haben Mitarbeiter?

Torsten Dietz Wir erleben oft, dass sich Unternehmen, die sich dem Thema Nachhaltigkeit ernsthaft stellen, auch einen riesigen Wandel in der Firma starten. Und damit werden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu Verbündeten. So etwas schafft Glaubwürdigkeit und vermittelt Sinn. Die Bewerber wollen heutzutage schon wissen, wie du dich im Sinne von Nachhaltigkeit verhältst.

Handel erzeugt neue Erlebniswelten

Halten wir fest: Ohne Nachhaltigkeit beim Produkt und auf der Fläche wird es in Zukunft nicht gehen. Aber wie erreicht man den Kunden von morgen?

Torsten Dietz Auch hier haben in der Pandemie Themen wie neue Erlebniswelten, neue Handelsformate und die Belebung der Innenstädte neue Kraft gewonnen. Viele hatten ja den stationären Handel für tot erklärt, ich habe überhaupt nicht den Eindruck.

Mathias Ullrich Tatsächlich wird die Rolle des physischen Raums, also die Fläche, gerade neu gedacht.

Was bedeutet das konkret?

Mathias Ullrich Die Fläche wird mehr sein als nur Ausstellungsraum für Produkte. Hier entstehen Markenräume und soziale Interaktionsflächen. Das ist es, was die Menschen in die Städte zieht. Andere Menschen treffen, Inspiration erleben oder auch nur unterhalten werden. Die größte Produktauswahl zu finden, ist nicht mehr das primäre Ziel.

Bedeutet das: Umsatz wird zweitrangig?

Mathias Ullrich Lassen Sie es mich so sagen: Eine höhere Verweildauer auf der Fläche zu erreichen wird immer wichtiger als der reine Umsatz pro Quadratmeter. Hat man den Kunden erst erreicht und in den Store gezogen, sollte der Abverkauf auch später im E-Commerce möglich sein.

Andere Automarken werden Mercedes folgen

Wo wird das bereits umgesetzt?

Mathias Ullrich Die klassischen Händler mit schnelldrehenden Artikeln sind bei einem solch drastischen Ansatz noch zurückhaltender, aber selbst Unternehmen wie Media-Markt/Saturn führen Schritt für Schritt neue Flächenkonzepte ein, die einen Omnichannel-Ansatz beinhalten. Andere Branchen wie zum Beispiel Automotive gehen da mutiger mit um. Zum Beispiel das Studio Odeonsplatz von Mercedes-Benz, das wir konzipiert haben und betreiben, verfolgt einen solchen Ansatz. Aber es wird sich demnächst in weiteren Branchen wiederfinden. Auch Sport-Scheck in Stuttgart verfolgt ein ähnliches Konzept, wo der reine Produktverkauf ergänzt wird um Services. Zum Beispiel werden Flächen für Physiotherapeuten oder Fitnesstrainer geschaffen. Der physische Raum steht dabei für Begeisterung und Interaktion. Online bekommt die Rolle der Transaktion.

Gibt es weitere Projekte?

Mathias Ullrich Wir reden da auch mit Sportvereinen, die mehr haben wollen als nur einen Fanartikel-Store in der Innenstadt. Die Frage stellt sich bei denen: Wie kann ich meine Marke dort aufladen und Bevölkerungsgruppen nahebringen, die bisher nicht im Stadion waren? Wie kann ich einen anderen Innenstadtaufschlag machen als bisher? Da geht es oft um mehr als die Präsentation von Trophäen und Trikots hin zur Positionierung als Unternehmen, das sich für sozialen und nachhaltigen Umgang miteinander und unseren Planeten einsetzt.

Torsten Dietz Daher glauben wir auch an die Innenstadtlagen. Sie werden sich zu Erlebniswelten des Handels verändern. Es wird mehr um Inspiration als um das direkte Kaufen gehen.

Es geht ums Gesamterlebnis

Was müssen solche neuen Räume des Handels leisten?

Mathias Ullrich Sie müssen Gastfreundschaft gewährleisten, sie müssen überraschen und unterhaltend sein und nicht zu vergessen, sie müssen auch ein entsprechendes Ambiente und Interior/Exterior bieten. Untersuchungen zeigen, dass der Look ’n’ Feel das Gesamterlebnis deutlich stärker prägt als bisher angenommen.

Torsten Dietz Er muss vor allem auch Inhalte bieten. Er muss neugierig machen. Das Beispiel Mercedes-Benz zeigt, dass sich auf solchen Flächen stetig etwas verändern muss. Alle paar Wochen muss sich eine neue Themenwelt aufmachen. Hier geht es darum, neue und junge Zielgruppen zu erreichen. Diese Menschen muss ich mit anderen Werten und Ideen abholen. Das klassische Autohaus mit seiner Flottenbandbreite war gestern.

Mathias Ullrich Wir nennen es heute einen Connected-Walkable-Instagram-Space auf 400 Quadratmetern und zwei Stockwerken, wo auch Innovationen und Technik präsentiert werden. Auch hier werden alle drei Monate die Kampagnen mit anderen Kooperationspartnern erneuert. Der Konsument hat also immer wieder einen neuen Grund hinzugehen. Das hat zudem jedes Mal einen neuen Medienaufschlag.

Der verbundene und begehbare Instagram-Raum ist demnach das Zukunftsmodell. Ist das auch auf einer vergleichsweisen kleinen Fläche möglich?

Torsten Dietz Davon sind wir überzeugt. Es entstehen derzeit viele kleinere Aufenthaltsorte für progressive Zielgruppen, die auch zum Arbeiten kommen werden. Der Raum wird lebendig. Dafür braucht man auch spezielles Personal. Wir suchen keine klassischen Verkäufer, sondern eher Eventspezialisten oder Erlebnisverkäufer. Wir nennen das Programmatic Retail – programmatisches Verkaufen. Es wird ebenso Vorträge wie Yogaklassen geben in den Retailflächen der Zukunft. Hier soll ich eine gute Zeit haben und Leute treffen. Hier spannt sich der Bogen wieder zum Thema Innenstadt. Solche neuen Formate beleben die Innenstadt und verändern die Innenstadt.