AfD-Chef Bernd Klingler (gestreifte Krawatte) im Gemeinderat im Gespräch mit seinem Mitstreiter Heinrich Fiechtner – Sie stoßen auf Ablehnung im Rathaus Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Bei der Aussprache über den geplanten städtischen Haushalt ging es im Stuttgarter Rathaus hitzig zu. Vor allem wegen der Flüchtlingsfrage. Da kam es zum Eklat: Fast zwei Dutzend Stadträte wandten Bernd Klingler demonstrativ den Rücken zu, als der AfD-Fraktionschef redete.

Stuttgart - 130 Anträge mehr als vor zwei Jahren, 185 mehr als vor vier Jahren: Bei der Produktion von Haushaltsanträgen durch die Gemeinderatsfraktionen hat in den letzten Tagen Hochkonjunktur geherrscht.

Am Donnerstag türmten sich daher Papierberge im Großen Sitzungssaal des Rathauses. Bei der Aussprache im Gemeinderat über den Haushaltsentwurf der Verwaltungsspitze wurde die Unzufriedenheit der Fraktionen ebenfalls deutlich.

Kritik an OB Kuhn

Besonders die Fraktionsgemeinschaft SÖS/Linke-plus, die allein 170 Anträge vorlegte, kritisierte den grünen OB Fritz Kuhn massiv. Das besorgte Hannes Rockenbauch, der im letzten OB-Wahlkampf noch Konkurrent von Kuhn gewesen war.

In seinem „Faktencheck“ kam der OB nicht gut weg: Dessen Wort von der Vision für Stuttgart entpuppe sich als Worthülse. Auch das grüne Stadtoberhaupt leite nicht einmal ansatzweise eine ökologische und soziale Wende ein. Seine Bilanz bei der Wohnungspolitik sei „unrühmlich bis desaströs“. Martin Körner (SPD) bemängelte, Kuhn habe gut analysiert und die hohen Mieten als Armutsrisiko erkannt. Dann habe er aber nur „ein halbwegs befriedigendes Wohnungskonzept“ folgen lassen und den Wohnungsbaugenossenschaften keine Rolle zugewiesen. Der Personalmangel in einigen Ämtern sei dramatisch.

Jürgen Zeeb (Freie Wähler) forderte Kuhn und das „rot-rot-grüne Lager“ auf, von dem Dogma abzurücken, dass keine neuen Baugebiete geschaffen werden dürfen, nur bestehende ergänzt werden. Matthias Oechsner (FDP) kritisierte, dass die Verwaltung das Budget für Mutterschaftsvertretungen nicht zu diesem Zweck verwende. Der Stadtist Ralph Schertlen vermisste den „großen Wurf“ für den Ausbau der Radwege und wie Oechsner weitere Kreisverkehre.

Der Aufreger Nummer 1

Am Eklat bewegten sich die Stadträte beim Thema Flüchtlinge. Während der Rede von Bernd Klingler, Fraktionschef der rechtspopulistischen AfD, rückten rund zwei Dutzend Stadträte von Grünen, SÖS/Linke-plus und SPD ihre Stühle und drehten Klingler demonstrativ den Rücken zu – während Klingler drohte, die „Leute werden es nicht tatenlos hinnehmen“, dass so viele Flüchtlinge kommen und die Verwaltung ohne Konzept reagiere. Klingler setzte sich auch erneut mit dem Katholischen Stadtdekan Christian Hermes auseinander. Der hatte ihn einen „zündelnden Brandstifter“ genannt, weil Klingler von einer „Invasion von Eindringlingen“ gesprochen hatte, die die Sozialsysteme aussaugen wollten. Auch der Kardinal von Valencia (Spanien) habe jetzt von einer Invasion von Einwanderern geredet, die sich als Trojanisches Pferd erweisen könnten, behauptete Klingler. Und: „Wäre der Kardinal Stadtrat wie ich, würde er vom Stadtdekan übel beschimpft und verunglimpft werden.“

Die anderen Kräfte im Gemeinderat machten deutlich, dass sie in der heiß diskutierten Flüchtlingsproblematik konstruktiv sind und Lösungen suchen. „Mit der Not der Menschen werden wir keine Politik betreiben“, sagte Zeeb, „wir sehen uns in der Rolle der helfenden Feuerwehr und nicht in der Rolle der zündelnden Brandstifter.“ Alexander Kotz (CDU) beklagte, dass man sich in den Gemeinderatsausschüssen platte und „zum Teil menschenfeindliche Parolen“ anhören müsse. Dabei hätte Klingler genug zu tun, seine persönlichen und finanziellen Dinge zu bereinigen – ein Hinweis darauf, dass Klingler finanzielle Untreue im Umgang mit Geldern seiner früheren FDP-Fraktion vorgeworfen wird. Martin Körner urteilte, die AfD gehöre zu denen, die ein „bitteres parteipolitisches Süppchen kochen“. Klingler reagierte und nahm besonders Kotz aufs Korn, der die CDU-Haushaltsanträge unter das Motto von Glaubwürdigkeit in der Politik gestellt hat. Kotz stelle seinen Elektro-Smart mit Werbung werbewirksam auf einem öffentlichen Parkplatz beim Rathaus ab – wenn er wieder daheim sei, steige er in einen Sportwagen mit Verbrennungsmotor.

Die Haltung der Ratsmehrheit in der Flüchtlingsfrage könnte bald praktische Konsequenzen haben. Mehrere Anträge zielen auf den Einsatz von mehr Betreuern für Flüchtlinge. Die FDP zum Beispiel schlägt einen Betreuer pro 120 Flüchtlinge statt bisher 1:136 vor. SÖS/Linke-plus wollen gar 1:100, die Sozialdemokraten 1:110. Auch die Grünen sehen Diskussionsbedarf.

Die Schnittmengen

Bereits jetzt zeichnete sich ab, dass in der entscheidenden Sitzung am 18. Dezember eine Mehrheit für eine deutlichere Ausweitung des Stellenplans geben wird – über die 518 Stellen hinaus, die Kuhn und Kämmerer Michael Föll (CDU) neu schaffen wollen. Dass weitere 32,7 Stellen wegen Arbeitsverdichtung unumgänglich seien, glauben fast alle Fraktionen. Manche wollen noch mehr.

Auch sonst gibt es etliche Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel bei der Entschlossenheit, für die Auffahrt zur Hochstraße B 27/10 eine umweltfreundliche Lösung zu realisieren und die jetzige Spindel abzureißen – wofür zunächst 250 000 Euro Planungsmittel in den Doppelhaushalt 2016/2017 sollen. Der Abriss wäre dann 2017 zu beschließen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es im Haushalt für den Unterhalt von Straßen und Plätzen auch mehr Geld geben, als die Verwaltungsspitze vorsah. Dieser Posten taucht auf einigen Fraktionswunschlisten für zusätzliche Förderung auf – mit unterschiedlichen Beträgen. Der Neubau fürs Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Bad Cannstatt scheint ebenfalls mehrheitsfähig zu sein. Nicht aber die Forderungen nach Erhöhung der Gewerbesteuer und Einführung einer Hotelbettensteuer sowie einer Vergnügungssteuer auf Börsengeschäfte (SÖS/Linke-plus) sowie nach Senkung der Grundsteuer (CDU, FDP und Freie Wähler).

Statements der Fraktionen

CDU

Alexander Kotz, Fraktionschef der CDU, nennt Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit als zentrale Themen des Haushalts. Glaubwürdig sei, die Grundsteuer bei Haushaltsüberschüssen zu senken, nötige Stellen zu schaffen, die Elektromobilität im Fuhrpark der Stadt zu fördern und dem Gartenamt zu helfen, bestehendes Grün zu pflegen. Nachhaltig sei, mehr Straßen und weitere alte Sportplätze sowie zwei weitere Gymnasien zu sanieren.

Grüne

Die Pflege des städtischen Anlagevermögens und der städtischen Besonderheiten müsse weitergehen, sagt Andreas Winter. Die Schaffung von Wohnraum sei eine elementare Aufgabe für Stuttgart. Entscheidend sei, verfügbar werdende Flächen schnell zu nutzen. Zur Solidarität gebe es keine Alternative. Daher habe man Vorhaben im Sozialbereich auf der Liste. Flüchtlinge, die bleiben, sollten schnell Zugang zu Arbeit haben.

SPD

Fraktionschef Martin Körner sieht die Sozialpolitik im Haushaltsentwurf der Verwaltung kaum repräsentiert. Die SPD will frühe Hilfen für Familien ausbauen, Kitas müssten zu Familienzentren werden. Höhere Zuschüsse für freie Träger seien in Ordnung, sie wie der OB zu verschweigen aber nicht. Unakzeptabel sei auch der schleppende Wohnungsbau.

SÖS/Linke-plus

OB Kuhn setze das mut- und konzeptlose Durchwursteln der letzten Jahre fort, sagt Hannes Rockenbauch. Eine ökologische und soziale Wende leite der Grüne nicht mal ansatzweise ein. Sein Versprechen der Vision sei eine Worthülse. Wenn man Mut hätte, gäbe es auch die Spielräume im Haushalt, um große und strukturelle Themen anzugehen. Kuhn vernachlässige auch den Schutz der Stuttgarter vor dem Klimawandel.

Freie Wähler

Mehr als 50 Millionen Euro im Jahr könne die Stadt nicht verbauen, sagt Jürgen Zeeb, ein „Basar der Meistbietenden“ sei daher unsinnig. Mehr Wohnraum zu schaffen, marode Straßen zu sanieren, die Luftqualität und Gewerbestandorte zu verbessern, Flüchtlinge und Stadtbezirke angemessen zu berücksichtigen, dazu sei die Fraktion bereit. Sie wolle aber keine „Luxusthemen im Kulturbereich“. Zeeb fordert von OB Fritz Kuhn, neue Bauflächen auszuweisen.

AfD

AfD-Chef Bernd Klingler befasst sich vor allem mit dem Flüchtlingszustrom. Er erwarte vom OB ein Konzept, wie die Stadt „mit der Lawine von Zuwanderern fertig werden will“, und lobte den Tübinger Grünen-OB Boris Palmer. Der habe eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik gefordert. Bis 2017 werde die Stadt 70 000 Flüchtlinge unterbringen müssen, rechnete Klingler vor. Seine Fraktion wolle Impulse für ein „sicheres und sauberes Stuttgart“ setzen. (jos/ks)