Jedes Jahr nach der Frostphase Foto: factum/Weise

Auf den Friedhöfen im Stadtgebiet wird derzeit die Standfestigkeit der Grabmale geprüft.

Seit mehr als zwanzig Jahren erzählt das schwere steinerne Kreuz vom Tod eines Menschen, der auf dem Pragfriedhof seine letzte Ruhe gefunden hat. Das Grabmal hat sich im Laufe der Jahre verändert. Der Stein bröckelt, und es steht schief, fast so, als könnte es jeden Moment kippen. „Tut es aber nicht“, sagt Reiner Dölfel. „Ein kerzengerades Grabmal kann gefährlicher sein als ein schiefes“, fügt er hinzu und setzt zum Beweis an. Er legt seine Hand an den obersten Punkt des alten Kreuzes und zieht es einmal kräftig zu sich. Nichts rührt sich. Anschließend lässt er noch kurz seinen Blick über den Rest des Grabes streifen: Ist die Einfassung der Ruhestätte noch intakt? Er prüft mögliche Absenkungen und Gefahrenstellen – und geht weiter zum nächsten Grab.

Reiner Dölfel ist Friedhofsaufseher auf dem Pragfriedhof. Hauptsächlich leitet er dort Bestattungen an und kümmert sich beispielsweise um die Grabauswahl. Doch dieser Tage macht er das, was jedes Jahr nach der Frostphase auf ihn zu kommt: die Standsicherheitsprüfung. Das heißt, er kontrolliert die sage und schreibe rund 20 000 Grabmale des Pragfriedhofes auf ihre Standfestigkeit. „Wackelaktion“ wird diese Kontrolle umgangssprachlich genannt. Auch einige seiner Kollegen sagen das. Er selbst hört die Bezeichnung nicht gerne: „Das wird der Sache eigentlich nicht gerecht“, sagt er. Für den Friedhofsbesucher sehe das vielleicht flapsig aus, wie er durch die Reihen geht und an den schweren Steinen zieht und drückt. Doch er und seine Kollegen, die die Grabmale der anderen Stuttgarter Friedhöfe prüfen, werden jedes Jahr gründlich auf die Tätigkeit vorbereitet.

Klingt lustig, ist aber ernst

Die Schulungen werden häufig von Maurus Baldermann geleitet. Er ist gelernter Steinmetz und seit 15 Jahren bei der Stadt als technischer Berater vor allem im Denkmalschutz tätig. Auch er verweist auf den Ernst der jährlichen Tätigkeit: „Für die Verkehrssicherheit sind die Kontrollen sehr wichtig. Es gibt ältere Menschen, die sich auf Grabsteinen abstützen, Kinder, die um die Gräber herum springen – da darf nichts passieren.“ Sicherlich gebe es kritische Stimmen, es sei eine Art Beschäftigungstherapie, bekomme er manchmal zu hören. Vor allem die Bezeichnung „Wackelaktion“ ziehe die Arbeit ins Lächerliche. Dabei folgen die Friedhofsmitarbeiter nur einer Vorschrift: Die Standsicherheitsprüfung wird von der Unfallverhütungsvorschrift VSG 4.7 der Gartenbau-Berufsgenossenschaft vorgeschrieben.

Die Gründe für die Vorschrift gehen auf die Folgen der Kälte im Winter zurück. „Der wesentliche Punkt ist das Gefrieren. Wenn es in den Hohlräumen an den Standfugen zu Eisbildung kommt, kann der Stein durch eine Ausdehnung vom Fundament gesprengt werden. Eis kann eine unheimliche Kraft entwickeln“, sagt Baldermann. Deshalb sei Frost die häufigste Ursache für einen wackelnden Grabstein. Was aber nicht heißt, dass das besonders häufig vorkommt. Schon die Steinmetzbetriebe müssen sich an Versetzrichtlinien halten. Die meisten Steine werden mit Dübeln in einem Betonsockel verankert, der 30 Zentimeter in die Erde reicht. Der Sockel ruht auf einer 60 mal 120 Zentimeter großen Grundplatte. Klingt stabil, und zumindest die ersten paar Jahre sollte das halten.

Jedes Jahr circa 80 bis 120 Mängel

Bei jeder Standsicherheitsprüfung stellt Dölfel zwischen 80 und 120 Mängel fest. Das ist nicht viel, gemessen an der großen Zahl an Grabsteinen. An die Eigentümer der mangelhaften Grabsteine geht ein Schreiben, in dem sie aufgefordert werden, die Mängel zu beseitigen.

Wenn von einem Grabmal eine akute Gefahr ausgeht, wird es niedergelegt, auf das Grab. Im Namen der Sicherheit müssen dann auch mal die Blumen dran glauben. Das aber sei es wert, sagt Baldermann, immerhin sei in Stuttgart noch kein Todesfall durch einen umfallenden Grabstein bekannt. „Der schlimmste Fall ist bei uns zum Glück noch nicht eingetreten“, sagt auch Dölfel und verweist auf ein Unglück, dass sich vor vier Jahren in Bergen auf Rügen ereignet hat. Dort wurde ein kleines Mädchen von einem Grabstein getroffen. Es ist kurz darauf gestorben. Das ist zwar nicht auf einem Friedhof, sondern bei einem Steinmetz passiert. Trotzdem ist es ein warnendes Beispiel.

20 000 Gräber auf dem Prüfstand

Inzwischen gibt es sogar externe Unternehmen und Ingenieurverbände, die den Grabsteinen mit patentierten Prüfgeräten zu Leibe rücken wollen. Davon hält aber weder Baldermann noch Dölfel etwas. „Da fängt es an, aufwendig zu werden. Mit den Geräten wären wir das ganze Jahr beschäftigt“, sagt Baldermann. Die Steine hätten mit bis zu 400 Kilogramm ein hohes Eigengewicht. „Da merkt man gleich, wenn man daran zieht, ob der Stein noch verkehrstauglich ist“, sagt Dölfel und Baldermann fügt hinzu: „Entweder er ist locker oder lose – dazwischen gibt es nichts“. Deshalb reiche die Druckprobe mit der Hand völlig aus. Dölfel macht das schon seit 1998, seit er als Friedhofsaufseher auf dem Pragfriedhof angefangen hat. Er ist erfahren, „aber nicht routiniert“, sagt er. Wichtig sei es, „trotzdem behutsam zu bleiben“. Anfang März hat er mit der Kontrolle begonnen. „Über die Hälfte ist schon durchgewackelt“, sagt er und hält kurz inne. „Jetzt hab ich es auch gesagt“, fügt er hinzu und lacht. Die restlichen Steine verteilt er auf drei bis vier Wochen. Bei 20 000 Gräbern ist er beschäftigt. „Da weiß man abends, was man geschafft hat.“