Jugendstil-Hausfassade an der Schickhardtstraße: Die langen Haare und der wallende Bart de Wassermanns zerfließen mit den Wellen Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln dieser Stadt verborgen sind. Wir schauen auf Orte, Kulturdenkmäler, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Diesmal: Architekturdenkmale am scharfen Eck.

Stuttgart - Schon um die Jahrhundertwende herrschte zwischen Bauherren und Bauverwaltung nicht eitel Sonnenschein. Aktenkundig ist beispielsweise der Streit zwischen den Architekten Emil und Paul Kärn, in dem es um Erschließungsfragen und Schäden auf der Straße vor neu geplanten und gebauten Wohnhäusern geht. Die Akten sind beim Staatsarchiv in Ludwigsburg abgelegt und keine Unikate.

Die Kärns waren um 1900 äußerst angesagte Architekten, Junge Wilde, denn sie pflegten den Jugendstil. Ein Baustil, der der steifen, wilhelminischen und streng symmetrischen Gestaltung der Vorjahre Paroli bot. Der verspielt war, florale Akzente setzte und exotische Tiere abbildete. Wer Geld hatte und auf sich hielt, der ließ Jugendstilfassaden bauen, unter Umständen auch den Innenraum der neuen Mode nach herrichten.

„In die Häuser rein komme ich nur selten“, sagt Peter Pipiorke, der sich dem Stuttgarter Jugendstil verschrieben hat. Nachdem der Elektrotechniker seine 45 Berufsjahre zusammenhatte, begann er als Hobbyhistoriker die Stadt zu erkunden. Auf die meisten Jugendstil-Bestände traf er im Westen, Süden und Osten, weil dort im Krieg weitaus weniger Häuser zerbombt worden sind. Aber auch im Süden der Stadt, in der Schickhardtstraße 43–47, steht ein Ensemble, das Pipiorke ans Herz gewachsen ist: Die Mietshausgruppe, erbaut 1903 bis 1905 von Emil und Paul Kärn.

Fabelwesen und Tiere dürfen nicht fehlen

Der Architekturführer Stuttgart beschreibt das Ensemble als „eines der wenigen Beispiele für einen homogenen Jugendstilbau“ und hebt hervor, dass es wegen seiner Lage an einer Straßenbiegung dreierlei Fassaden besitzt. Typisch für die ungestüme Stilrichtung: Der Erker des mittleren Gebäudes ist nicht in der Mitte angebracht, sondern schafft durch die Lage weiter rechts eine gewollte Asymmetrie.

Natürlich fehlen die Blumen, Fabelwesen und Tiere an der Fassade nicht: Ein Erker ruht auf einem Relief, das den Wassermann zeigt. Seine langen Haare und sein wallender Bart zerfließen mit den Wellen und bilden Strudel, während unter ihm eine Nixe neckisch nach oben schaut. Blüten in unterschiedlichem Stadium, schwellend und aufbrechend, zieren das obere Drittel der Fassade, Brustbilder vollbusiger Frauen springen hervor, und natürlich findet sich auch eine Raubkatze, wie den Kolonien entsprungen.

Das alles zeigt Peter Pipiorke, der gebürtige Berliner mit unverkennbarer Sprachfärbung, wenn er mit Publikum auf einer seiner Führungen unterwegs ist. Einmal seien Gäste dabei gewesen, die das Ensemble in der Schickhardtstraße kannten – und dank Pipiorkes reichhaltigem Wissen anerkennend murmelten: „Was der alles weiß, und das als Preuße!“ Unter anderem, dass eine Hausbesitzerin noch selbst dort wohnt und darauf erpicht sei, dass die Mieter im Sommer auch die Blumenkästen aufhängen und pflegen.

Kurz nach den Häusern wird Schwabtunnel gebaut

Wie die Architektur war auch das Verkehrswesen seinerzeit im Aufbruch. Kurz vor den Häusern der Architekten Kärn ist der Schwabtunnel gebaut worden, Deutschlands erster Tunnel, durch den ein Auto fahren konnte, und Europas weitester damals. Am 29. Juni 1896 wurde er eröffnet und schuf, unter dem Hasenrücken, eine Verbindung zwischen dem Westen und dem Süden Stuttgarts sowie hinüber nach Heslach.

Im Dezember 1902 trumpften die Verkehrsplaner mit einem weiteren Superlativ auf: Der Schwabtunnel wurde für die Straßenbahn freigegeben. Die Linie 6, eine Ringbahn, führte durch den Tunnel zur Schwabstraße, Rosenbergstraße, zur Friedrichstraße, zum Schlossplatz, zum Marienplatz und in die Böblinger Straße. Damit hatte Stuttgart „den ersten Straßenbahntunnel der Welt“, stellt der heimatgeschichtlich aktive Verein Schutzbauten Stuttgart fest.

„Den Baubeschluss hat der Gemeinderat 1894 gefasst, weil mit dem Tunnel der Gewerbestandort Stuttgart-West und Stuttgart-Süd wesentlich besser zu erreichen war“, sagt Hans-Joachim Knupfer, der Pressesprecher der Stuttgarter Straßenbahnen AG. Von 1954 bis 1978 bediente die Straßenbahnlinie 8 das Gebiet zwischen Schickhardtstraße und dem Hauptbahnhof, den Osten, den Charlottenplatz sowie den Westen – und hatte an der Kreuzung Schwab-/Bebelstraße sogar eine Begegnung mit sich selbst. Als die S-Bahn gebaut war, wurde diese Linie aufgegeben. Heute verkehren nur mehr Busse.

Nach dem Ersten Weltkrieg war der Jugendstil verpönt

Der Zweite Weltkrieg hat dem Tunnel nichts anhaben können, er diente den Anwohnern als Luftschutzbau. Dem Jugendstil aber hatte bereits der Erste Weltkrieg den Wind aus den Segeln genommen: Seine Verspieltheit und sein vor sich hergetragener Idealismus hätten nicht mehr zu den Bildern von den Schlachtfeldern gepasst, erläutert Pipiorke bei seinen Führungen. Es folgte das Bauhaus mit seiner Sachlichkeit. Umso größer ist die Freude, wenn man am scharfen Eck, wo die Schickhardtstraße in die Schwabstraße übergeht, dann doch noch ein Denkmal des reinen Jugendstils findet. Und obendrein am Mund eines Tunnels, der einst ein Weltereignis war.

26 der in unserer Zeitung veröffentlichten Beschreibungen sind als Buch erschienen: „Stuttgarter Entdeckungen“, 160 Seiten, 100 Fotos und Karten, Silberburg-Verlag, Tübingen und Karlsruhe. Hrsg.: Stuttgarter Nachrichten; 14,90 Euro.

Hintergrund:

Jugendstil in Stuttgart

Der Baustil ist Ausdruck der Befreiung aus einer starren, konventionellen und wilhelministisch geprägten Kultur. Statt strenger Symmetrie zog um 1900 Verspieltes, Florales, Märchenhaftes in die Bauten ein und beeinflusste auch Möbeldesigner, Goldschmiede, Buchbinder, Glaskünstler.

Bedeutende Beispiele des Jugendstils finden sich in Brunnen, in Kirchen wie der Markuskirche im Stuttgarter Süden oder der Stadtpfarrkirche Gaisburg, in Gewerbebauten wie dem ehemaligen Schlachthof, der Markthalle und der Stitzenburg-Apotheke in der Hohenheimer Straße, ja sogar auf Friedhöfen: Auch das Krematorium Pragfriedhof trägt diesen Stil.

Wohnhäuser, deren Architekten den Jugendstil gepflegt haben, finden sich insbesondere im Stuttgarter Westen, wo der Großteil der Häuser um 1900 herum gebaut wurde. Aber auch im Bezirk Mitte, in der Alexanderstraße und der Danneckerstraße, sowie im Süden in der Filderstraße, im Strohberg und in der Schickhardtstraße, hat man jeweils mehrere Häuser in diesem Stil errichtet.

Stadtspaziergänge

Ein Buch der Reihe „Stadtspaziergänge in Stuttgart“ befasst sich mit dem Jugendstil und wurde von Peter Pipiorke und Friederike Votteler vom Verein Naturfreunde Radgruppe Stuttgart verfasst. Es ist 2008 im DRW-Verlag erschienen.

Führungen zu den Jugendstil-Perlen Stuttgarts werden unter www.pipiorke.de erläutert, dort sind auch die nächsten Termine verzeichnet. Ebenfalls einen Stadtspaziergang zum Thema Jugendstil in der Landeshauptstadt bietet die Agentur Architek-Touren Stuttgart an. Termine für die zweieinhalbstündige Führung gibt es auf Anfrage unter www.architektouren-stuttgart.de (czi)