Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Diesmal: Die Schlößlestraße in Gablenberg.
Stuttgart - An der Burgstraße liegt eine Burg, die Parkstraße führt zu einem Park, in der Schlossstraße flaniert man an einem Schloss entlang. Und an der Schlößlestraße – gibt es kein Schlössle.
Es mutet schon kurios an, wenn man sich mit jener recht kurzen Seitenstraße der Gablenberger Hauptstraße befasst. „Ein echtes Schloss oder ein Schlössle hat hier nie gestanden“, erläutert Stefan Morgenstern. Der 54-Jährige ist Vorsitzender des Vereins „Unsere Schlößlestraße“ und zückt jene Broschüre, die der Verein unter dem Titel „Ort, Menschen und Geschichte – Unsere Schlößlestraße“ 2011 zum 100-jährigen Bestehen der Straße veröffentlicht hat. Demnach wurde 1418 erstmals ein „Hof“ erwähnt, vermutlich ein Herrensitz, zu dem auch Leibeigene als Bewohner gehörten. „Später kam die Bezeichnung Schlößle auf, in dem ein Edelmann Hans Hack lebte.“ Diversen Amts- und Würdenträgern als Besitzer folgten im 19. Jahrhundert mehrere Brauereien; beispielsweise die Schloßbrauerei Gablenberg Stahl & Arnold oder die Württembergische-Hohenzollernsche Brauerei-Gesellschaft.
Bestandteil des Areals war jene Gaststätte „Schlößle“, die jahrhundertelang „das Herz von Gablenberg“ darstellte: Vom Herrensitz mitten in den Weinbergen entwickelte sich das Schlößle zu einem Festplatz und Treffpunkt vieler Vereine Gablenbergs. 1923 etwa feierte der Verein für Homöopathie und Lebenspflege Gablenberg sein 30-jähriges Bestehen mit einem Vortrag des bekannten Arztes und Schriftstellers Dr. Friedrich Wolf („Cyankali“), des Vaters des späteren DDR-Stasi-Auslandschefs Markus Wolf. Mit dem Abriss des Gasthauses 1973 ging ein für die Gablenberger wichtiger Ort verloren. „Im Namen unserer Schlößlestraße lebt sein Geist weiter“, erläutert Vereinsmitglied Marta del Pozo, die für die Jubiläumsbroschüre recherchiert und die grafische Gestaltung des Bands übernommen hat.
1909 wurde mit dem Bau der Straße begonnen
Um der damaligen Wohnungsnot zu begegnen, wurde 1909 mit dem Bau der Verbindungsstraße zwischen der Haupt- und Klingenstraße begonnen. Architekt des Ensembles war Eugen Brodbeck, als Bauunternehmer agierten die Brüder Christian und Paul Dürr. „Architektonisch gehören die Häuser zum ,Neuen Stil’, der nach dem Jugendstil entstanden ist. Die Dekoration ist weniger blumig und die Gestaltung nüchterner“, heißt es in der Chronik zur Straße.
Als nüchtern würde man jene dreigeschossigen Häuser allerdings nicht unbedingt bezeichnen, wenn man als Flaneur an der Petruskirche (dem höchsten Gotteshaus Stuttgarts) zunächst die verkehrsumtoste Hauptstraße überquert und dann den Hügel hinuntergeht. Jedes Haus ist in einem anderen Pastellton gestrichen, hat einen Erker, doch keiner gleich dem anderen. „Der Architekt hat jedem Haus seine eigene Individualität gegeben“, sagt Morgenstern.
Ein architektonisches Kleinod somit, das in Stuttgart allerdings nur wenigen bekannt ist. Seinen besonderen Reiz entfaltet das Ensemble bei der richtigen Sonneneinstrahlung, dann kommen die lieblichen Häuschen in ihrer wahren Pracht zu Geltung. „Seit 1988 stehen die Häuser in der Schlößlestraße und angrenzende Häuser offiziell unter Denkmalschutz“, berichtet Marta del Pozo. In der damaligen Begründung des Landesdenkmalamts Baden-Württemberg heißt es: Nicht nur an den Gebäuden, sondern auch in der leicht gebogenen Straßenführung werde eine neue Formensprache anschaulich, „die sich als Gegenposition zum schwelgerischen Historismus des späten 19. Jahrhunderts verstand“.
In fast jedem Erdgeschoss gab es einen Laden
Mit dem ursprünglichen Charakter hat die Straße heutzutage aber eher weniger zu tun. „Viele Jahre lang besaß kein Anwohner ein Auto, die Straße gehörte den Kindern, die hier unbeschwert spielen konnten“, sagt Marta del Pozo. Einst gab es in fast jedem Erdgeschoss einen Laden – Bäcker, Friseur, Handwerker, Milchgeschäft. Drüber im ersten Stock wohnte die Familie, im Dachgeschoss die Angestellten, erläutert Morgenstern. Im Laufe der Jahrzehnte konnten die Besitzer ihre Läden aber nicht mehr halten, auch die Erdgeschosse wurden in Wohnraum umgewandelt. Einen Laden gibt es aber doch noch, ganz unten an der Ecke zur Klingenstraße: Dort hat betreibt Vereinsmitglied Petra Pfeiffer unter dem Motto „Kreativdialog als Veränderungskunst“ eine Praxis und Kreativwerkstatt. Die Räumlichkeiten werden zudem für die circa sechs Treffen des Vereins pro Jahr genutzt.
Kürzlich hat der Verein mal nachgezählt – und ist auf 200 Briefkästen in der Schlößlestraße gekommen. Allerdings gibt’s in der von beiden Seiten befahrbaren Straße lediglich knapp 30 Stellplätze. Die Parkplatznot ist eines der Hauptprobleme im Viertel. „Manchmal sucht man 20 Minuten nach einen Stellplatz“, erläutert Morgenstern. „Und sobald hier gleichzeitig drei Autos von oben und zwei von unten kommen, geht nichts mehr – und es folgt ein lautes Hupkonzert.“ Aber das kann man auch verschmerzen, ist die Schlößlestraße doch nach Morgensterns Einschätzung „eine der schönsten Straßen in Stuttgart, vielleicht sogar die schönste“. Als unabhängiger Beobachter würde man allenfalls eine kleine Einschränkung machen: Die Schlößlestraße ist die kürzeste schönste Straße Stuttgarts.
26 der in unserer Zeitung veröffentlichten Beschreibungen sind als Buch erschienen: „Stuttgarter Entdeckungen“, 160 Seiten, 100 Fotos und Karten. Silberburg-Verlag Tübingen und Karlsruhe. Hrsg.: Stuttgarter Nachrichten, 14.90 Euro.