Kurt Heinz Lessig mit Lösskindel von einer Fundstelle im Feuerbachtal Foto: factum/Granville

In und um Stuttgart finden sich noch heute Zeugen der Eiszeit: Lösskindel, eine Hinterlassenschaft der damals angewehten Lössschicht. Der Hobby-Geologe Kurt Heinz Lessig half uns für die Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ bei der Suche.

Stuttgart - Für einen Spaziergang mit Kurt Heinz Lessig empfehlen sich feste Schuhe. Der Stuttgarter bleibt selten auf befestigten Wegen, öfter gründelt er hinter Brombeergestrüpp oder in Geländeeinschnitten nach Fundstücken aus der Erdgeschichte.

Wir sind unterwegs in der Bachhalde, einer kleinen Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Mühlhausen und Zazenhausen. Sie führt durchs Untere Feuerbachtal, das hier wie ein Idyll wirkt. Hangwälder, ein Steinbruch, Obstbaumwiesen und Hecken prägen das Bild, vor allem aber Auwiesen, Tümpel und der Bach, der nach Jahren im Betonkorsett wieder sein ursprüngliches Bett zurückbekommen hat.

Irgendwann zeigt Kurt Heinz Lessig nach rechts und zweigt auf einen kleinen Weg ab. Der 80-Jährige schreitet zügig bergan und hält erst an, als die Felder und Starkstrommasten auf der Ebene zwischen Stuttgart und Kornwestheim zu sehen sind. Lessig zeigt nach links auf einen Einschnitt. Der ist verborgen hinter einer Wand aus Brennnesseln und wildem Wein, der eine Akazie umschlingt. „Hier habe ich einen ganzen Haufen von Lösskindeln gefunden“, sagt Lessig, und schreitet ohne Zögern durch die piksenden gezackten Blätter. Er hangelt sich tiefer in den Einschnitt, teilt die Pflanzen, die den Haufen überwuchert haben, und hebt etwas auf, das auch eine Kartoffel oder eine Ingwerwurzel sein könnte. „Sehen Sie, das ist mindestens 10 000 Jahre alt, da steckt Stuttgarts Erdgeschichte drin.“

Lessig war früher Verlagskaufmann. Jetzt, als Ruheständler, hat er endlich mehr Zeit für den Naturschutzbund und den Schwäbischen Albverein, denen er seit Jahrzehnten treu und als Naturschutzwart dienlich ist. Auch dem Umweltamt der Stadt Stuttgart arbeitet er zu. Natur und Geologie sind untrennbar miteinander verknüpft. Deshalb habe er sich auch schon immer für Geologie interessiert. Er hat sich intensiv mit den in und um Stuttgart vorkommenden Gesteinen befasst und gehört, dass auf den hier weit verbreiteten Lössflächen auch Lösskindel zu finden sein müssten.

Wie die Kalkschicht im Waschbecken

Löss stammt aus der Eiszeit. „Stuttgart war vor mehr als 12 000 Jahren zwar nicht eisbedeckt, aber es war deutlich kühler, es herrschten sogenannte kaltzeitliche Bedingungen“, sagt Thilo Rennert. Er ist Professor am Institut für Bodenkunde und Standortslehre an der Universität Hohenheim. Die Gletscher in den Alpen seien gewachsen, ihre Zungen streckten sich bis nach Oberschwaben, auch der Feldberg war eisbedeckt. Die Flüsse fielen trocken, die Erde hatte nur eine sehr dünne Vegetationsdecke. „Der Wind hat feines, staubgroßes Material aus den Flusstälern, zum Beispiel dem Rheintal, weggeblasen, und dieser Löss legte sich in mehrere Meter dicken Schichten in Geländesenken ab“, sagt Rennert. Löss enthält neben Quarz auch Kalk und andere nährstoffhaltige Minerale. „Daraus hat sich in den Gäuen und auf der Filderebene sehr guter Ackerboden entwickelt.“

Um dem Geheimnis der Lösskindel auf die Spur zu kommen, muss man die klimatologischen Veränderungen der vergangenen 10 000 bis 12 000 Jahre betrachten. „Es wurde wärmer und feuchter, Pflanzen siedelten sich an und gaben über ihre Wurzeln Säuren in den Boden ab.“ Säure und Regenwasser lösen Kalk aus dem Löss, das Wasser versickert, der Kalk kann sich tiefer im Boden neu bilden. „Das können Sie sich vorstellen wie die Kalkschicht in Waschbecken, die immer dicker wird, wenn man sie nicht wegputzt“, sagt Professor Rennert. Im Ackerboden blieb kein Film übrig, sondern es wuchsen rund um einzelne Kristallisationspunkte die knollenförmigen Lösskindel.

Heute findet man diese Kalkknollen in vielen Größen und Formen. Mit etwas Fantasie kann man in manchen von ihnen auch menschenähnliche Figuren erkennen.

Kurt Heinz Lessig fand Anfang der 90er Jahre das erste Exemplar. „Ich hatte ständig danach gesucht“, sagt der Hobby-Geologe. Alte Oberamtsbeschreibungen haben ihm geholfen: „Die beschreiben unter anderem die Arbeitsweise der Bauern und dass sie beim Pflügen die Steine von ihrem Acker abgelesen und auf Haufen geworfen haben.“

Heute noch Lösskindel auf den Fildern zu finden, hält Professor Rennert für ziemlich unwahrscheinlich: „Dort wurden die Felder schon viel zu oft umgewälzt.“ Vermutlich wurden dort auch viele Steinhaufen weggeschafft. Umso mehr liebt Lessig die Stelle bei Zazenhausen und die seit Jahrhunderten unberührten Funde aus der Erdgeschichte.

Info

Das Oberamt, der Ackerbau und die fleißigen Bauern

Die Oberamtsbeschreibung ist 1851 erstmals vom Königlich statistisch-topographischen Bureau herausgegeben worden. Sie beschreibt Lage, Geografie, Topografie, Einwohner und deren soziale Lage sowie die Zahl der Tiere. Die Betrachtung erfasst das gesamte Oberamt und im Speziellen die Stuttgarter Stadtteile.

31 654 „Seelen“ lebten am Stichtag der Erhebung, am 3. Dezember 1846, im Oberamtsbezirk. In der Hauptsache waren „Ackerbau, Viehzucht, Obstbau und in einigen Orten auch Weinbau die Hauptnahrungsquellen“.

Über den Boden steht geschrieben: „Die Verhältnisse sind wie die geognostischen ziemlich einfach, im Allgemeinen günstig, was freilich nicht allein den ursprünglichen Bestandtheilen, sondern auch der seit Jahrhunderten fortgesetzten fleißigen Bebauung desselben zuzuschreiben ist.“ Gedüngt wurde fleißig mit Gülle und Kompost, während auf den Hohenheimer Versuchsflächen bereits Guano zum Einsatz kam.

Die Fläche des Oberamts stimmt nicht mit dem heutigen Stadtgebiet überein. Im Süden dehnte sich der Zuständigkeitsbereich bis nach Musberg, Waldenbuch und Glashütte, Neuenhaus, Harthausen und Sielmingen aus, im Norden war bei Gaisburg und Berg, bei Feuerbach und Botnang Schluss. Weilimdorf gehörte zum Oberamt Leonberg, Zuffenhausen zum Oberamt Ludwigsburg, Münster und Mühlhausen zum Oberamt Cannstatt. Die Oberämter Esslingen, Nürtingen, Tübingen und Böblingen grenzten im Osten, Süden und Westen an das Stuttgarter.

Veröffentlichte Beiträge in der Serie Stuttgarter Entdeckungen findet man im Internet unter www.stn.de/entdeckungen. (czi)