Die Stadtbücherei am Mailänder Platz hat zehnten Geburtstag. Der Würfel hat sich zu einem Wahrzeichen und Treffpunkt entwickelt. Er zeigt, dass sich Mut auszahlt, findet unser Redakteur Frank Rothfuß.
Stuttgart - Bücher statt Bier. Das war der Gedanke, der zur ersten Stuttgarter Bücherei führte. Stifter hatten 1897 den „Verein Volksbibliothek Stuttgart“ gegründet. Sie wollten Jugendlichen ohne richtiges Zuhause eine Alternative zu den Wirtshäusern bieten. Mit 3000 Büchern startete man in der ehemaligen Legionskaserne, dort steht heute der Wilhelmsbau. 1901 zog die Volksbibliothek in ein „schmuckes, stattliches“ Gebäude an der Silberburgstraße. Mit Dachgarten und einem fünf Meter hohen Lesesaal. Luxus sei vermieden worden, hieß es, „auf größte Zweckmäßigkeit Bedacht genommen worden“. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Stuttgart drei große und zwölf kleine Bibliotheken, alle wurden sie zerbombt. Von 95 000 Büchern waren noch 5000 übrig.
Umzug aus dem Wilhelmspalais
Die Zentralbücherei im Wilhelmspalais eröffnete 1965 mit 65 000 Medien. Nun hat die Stadtbücherei mit ihren 18 Stadtteilbücher 1,12 Millionen Medien im Bestand, alleine eine halbe Million Medien finden sich in der Zentralbücherei am Mailänder Platz. Insgesamt stehen in den Regalen 833 592 Bücher. Man neigt ja gerne dazu, die Vergangenheit zu verklären, aber nein, es wird nicht alles schlechter. Für Kulturpessimismus gibt es keinen Grund. Jeder Stuttgarter leiht statistisch acht Medien im Jahr aus.
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Die Menschen kommen. Sie mögen ihre Bücherei. Sie kommen, um zu stöbern, um zu lernen, um zu lesen, um auszuruhen, um Kaffee zu trinken, um die Aussicht von der Dachterrasse zu genießen, um zu staunen, um ihre Handys aufzuladen, um zu sinnieren. Allen Unkenrufen bei der Einweihung vor zehn Jahren zum Trotz hat sich die Stadtbibliothek zu einem Treffpunkt entwickelt. Und zwar für Menschen aller Couleur, Herkunft und Bildung. Was war das für ein Aufruhr als 2015 und 2016 viele Flüchtlinge das Haus für sich entdeckt hatten, mit Sitzecken, WLAN und Stromanschluss. Das Gewusel erschreckte viele Bildungsbürger, für die eine Bibliothek ein Hort der Ruhe zu sein hat. Das Personal erklärte geduldig die Regeln, setzte auf Gelassenheit, und siehe da, viele der neuen Stuttgarter lernten mithilfe der Bücher Deutsch und kommen mittlerweile mit ihren Kindern wieder. Die längst schon Kinderbücher auf Deutsch lesen.
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Gerade ihr umstrittener Standort erweist sich als Stärke. Am Mailänder Platz zeigen sich die Gegensätze und Brüche der Stadt. Das Einkaufszentrum Milaneo zieht viele Jugendliche an. Die lautstark auf sich aufmerksam machten. Die Stadtbibliothek arbeitete mit der Jugendhilfe zusammen, bot Räume, Medien und Ideen an, die etwa beim Tag der Musik einer Silent Disco, einer Sprachwerkstatt oder dem Vinyl-Art-Workshop genutzt werden. Viele Jugendliche waren so erstmals in einer Bücherei. Mittlerweile machen einige von ihnen sogar dort Praktika.
Lernen von der Bücherei
Man kann in der Bücherei lernen. Man kann auch von ihr lernen. Gerade wenn es um künftige Bauten wie das Konzerthaus oder das neue Lindenmuseum geht. Es lohnt sich mutig zu sein, mitunter radikal, und ohne auf jeden Cent zu schauen. Man muss das Geld nicht hinauswerfen, aber zu sparen, das rächt sich später. Es war viel teurer einen dritten Aufzug einzubauen, als ihn gleich mit zu planen. Und man muss mit seinen Pfunden wuchern. Kann man sich vorstellen, dass Hamburg seine Elbphilharmonie mit einem Hotel zubauen lässt? Stuttgart schafft es immer wieder, seine größten Schätze zu verstecken. Was findet sich nicht alles im Kulturquartier? Oper, Theater, Stadtmuseum, Haus der Geschichte, die neue Labi, Staatsgalerie. Dicht an dicht. Welche Stadt hat so etwas zu bieten? Wenige. Doch wie zäh ist die Jahrzehnte währende Diskussion um den Rückbau der Stadtautobahn, die das Quartier zerschneidet. So kommt man nicht voran. Wenn sich etwas ändern soll, wenn Stuttgart auf sich aufmerksam machen will, dann muss man etwas wagen: Wie einen Würfel als neues Heim für Bücher.