Myriam Simon (Blanche) und Daniel ­Camargo (Stanley) Foto: Stuttgarter Ballett

Neu besetzt: Das Stuttgarter Ballett tanzt John Neumeiers Blick auf das Südstaatendrama „Endstation Sehnsucht“. Es erzählt vom Wandel der noblen Südstaatenepoche in ein neues Amerika, in dem das Gesetz des Dschungels gilt.

John Neumeiers Blick auf das Südstaatendrama „Endstation Sehnsucht“ steht nicht oft auf dem Spielplan des Stuttgarter Balletts; Urheberrechte für alle beteiligten Künstler machen die Aufführungen teuer. So ist klar, dass die Kompanie nach mehr als einem Jahrzehnt Sehnsuchts-Pause die aktuelle Wiederaufnahme für viele Rollendebüts nutzen will. Nur: Kandidatinnen für die fragile Südstaatenschönheit Blanche finden sich einige in der Kompanie, Miriam Kacerova oder Katarzyna Kozielska etwa. Doch wer außer Jason Reilly hat das dramatische Schwergewicht, um die Rohheit des Underdogs Stanley Kowalski als bedrohlich begreifbar zu machen?

Auch Neumeiers Ballett erzählt vom Wandel der noblen Südstaatenepoche in ein neues Amerika, in dem das Gesetz des Dschungels gilt. Der ideale Ort also für den Ersten Solisten Daniel Camargo, „The Panther“, wie ihn das neue Spielplanbuch vorstellt. Doch als er Blanche das erste Mal gegenübertritt, ist der junge Brasilianer eher Stubentiger als furchteinflößendes Raubtier. Ein Kerl, der mit Muskeln den Mädels imponiert und nicht mit dem gefährlichen Potenzial, das sich da unter der glänzenden Haut eigentlich mitwölben sollte.

Doch zum Glück boxt sich auch dieser Kowalski warm und vergisst seine gute Ballettkinderstube. Mit fiesem Grinsen entfesselt Daniel Camargo schließlich die Bestie im Mann, die sich rücksichtslos nimmt, was sie will und vor der totalen Erniedrigung von Blanche mit ihr spielt wie eine Raubkatze mit ihrer Beute. So bedrückend ist die Wucht seines Übergriffs, dass ein wenig der negativen Energie vielleicht bald schon auf den Beginn des Dramas abfärben kann.

Myriam Simon gelingt dagegen vom ersten Moment an ein feines Wunder. Sie zeigt uns Blanche als Frau, die wie eine Wiedergängerin zwischen Welten pendelt. Ihr Gesicht ist, als sie einsam und irr auf ihrem Krankenbett hockt, bewegt wie ein Sommerhimmel mit aufziehendem Gewitter; Erinnerungen an Leid und Schönes huschen wie Sonne und Wolken darüber. Und selbst als sich Robert Robinson, Matteo Crockard-Villa und Jesse Fraser als lüstern-züngelnde Boten des Bösen über sie hermachen, wahrt sie Würde. Vergewaltigung? Realitätsverlust? Die Kanadierin zeigt uns eine zerbrechliche Frau, die innerlich unversehrt bleibt, weil sie Abgründe nicht wahrnehmen will.

Wie ein Wachsfigurenkabinett besichtigt diese Blanche ihre Erinnerungen. Etwas blass bleibt in dieser Schattenwelt Marti Fernandez Paixa als Bräutigam, der Demütigungen zu locker wegsteckt. Zu brav räkelt sich Angelina Zuccarini als Blanches Schwester Stella in den Armen ihres Stanley; sie ist beweglich und flatterhaft wie ein Schmetterling, den die jazzig dissonanten Rhythmen der Großstadt umtreiben, nicht aber die Nöte der Schwester. Roland Havlica nähert sich als Mitch rührend-schüchtern Blanche an, so dass ihm fast zu wenig Anlauf bleibt für die Wut über ihr Vorleben. So erreichte Neumeiers Drama am Mittwoch erst spät seine ganze Fallhöhe. Zu sehen ist es in dieser Besetzung nochmals an diesem Freitag.