Cranko-Schüler heben ab: Variation aus dem Ballett „Viva Vivaldi“ Foto: Stuttgarter Ballett

Zum 39. Mal hilft eine Matinee beim Gelingen der Aktion Weihnachten. Am zweiten Advent tanzten Cranko-Schule und Stuttgarter Ballett wieder gemeinsam für den guten Zweck – und zeigten, wie man Augen zum Leuchten bringt.

Stuttgart - Eigentlich bleibt kein Wunsch unerfüllt an diesem Vormittag. Nach zwei Stunden, die voll gepackt waren mit wunderbaren Tanzeindrücken, verlässt das Publikum der Ballettmatinee das Opernhaus reich beschenkt. Auch die 39. Auflage der Benefizveranstaltung, mit der die John-Cranko-Schule und das Stuttgarter Ballett die Aktion Weihnachten unserer Zeitung mit dem gewohnt großen Engagement unterstützt haben, sorgt für glänzende Augen, restlose Begeisterung und den Eindruck: Es war noch schöner als im letzten Jahr.

Mit einem guten Dutzend abwechslungsreich aufgefädelter Tanzperlen haben die angehenden und aktuellen Stuttgarter Ballettstars zwei Stunden lang nicht nur ihre Kunst in schöner Perfektion geteilt; ihnen gelingen an diesem Morgen fast magische Momente, die davon erzählen, dass zumindest auf der Bühne das Glück unendlich teilbar scheint.

Blumengaben für die Gärtner

Die Realität jenseits der Bühne ist leider selbst in einer reichen Stadt wie Stuttgart eine andere. Ohne die Vorfreude auf das Kommende zu trüben, sprach Jan Sellner, der erste Vorsitzende der Aktion Weihnachten und Lokal-Ressortleiter der Stuttgarter Nachrichten, in seiner stimmigen Gala-Einführung von den Wünschen, die ohne fremde Hilfe unerfüllt blieben. Verschuldeten Menschen, die Beratung brauchen, Familien, die in Sozialunterkünften wohnen müssen, gilt das gemeinnützige Engagement in diesem Jahr. Der Dank Sellners galt allen an der Gala im Opernhaus Beteiligten wie auch den Stuttgarter Gärtnern, die mit ihren Blumengaben für weihnachtliche Farben sorgten. Besonders verbeugte sich Jan Sellner aber vor dem in der vergangenen Saison so erfolgreichen Stuttgarter Ballett und davor, dass es sich auch unter dem neuen Intendanten Tamas Detrich für die Aktion Weihnachten stark macht.

„Kunst ist nicht an nationale Grenzen gebunden, Kunst lebt von Internationalität und Vielfalt wie die Kulturstadt Stuttgart als Ganzes“, merkte Jan Sellner an. „Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, und doch ist es heute wieder wichtig, dies zu erwähnen.“ Wie vielstimmig und international die Tanzkunst ist, zeigte die Reise, zu welcher die Cranko-Schüler das Publikum einluden. Den klassischen Bühnentanz machten drei Akademie-Tänzerinnen in einer Szene aus dem Ballett „Abdallah“ zu einem Fest der Leichtigkeit: Sie webten beim Wettkampf um die Gunst eines Kollegen ein feines, romantisches Gespinst, in dem sie auch Virtuoses ganz selbstverständlich einwirkten.

Eine Basis, die alles möglich macht

Das klassische Ballett ist eine Basis, die alles möglich macht: Mechanisch wie die Figuren einer Spieluhr bewegen sich Elena Schrank und Yanis Restieri aus der vierten Klasse – und finden doch Platz für viel Komik und Charme. Bunt wie die Blumen vor einem Sommerhimmel sind die Variationen, die vier Tänzerinnen aus Akademie und Schule bieten – Kokona Morizumi lässt in „Der Talisman“ ihre Hände schmetterlingsleicht fliegen, Arianna Crosato Neumann dreht in „Coppélia“ sorglos Pirouetten, und auch Aoi Sawano und Jolie Lombardo schweben federleicht wie Wölkchen; ein ganzes Blumenmeer, bestehend aus 18 Tänzerinnen, kreist schließlich in „Viva Vivaldi“ um vier Junge, die mit ruhigen Gesten und Schritten der verschnörkelten Barockmusik trotzen.

Mit einem Einverständnis, das auch blind funktioniert, stürzen sich die Akademie-Schüler Joshua Green und Angelo Minacori in ein sehr modernes Duett, das aus dem Tanz meditative Kraft schöpft. „Meditative State“ heißt die schöne Choreografie der Cranko-Schülerin Tabitha Dombroski, die in ihrem Wunsch nach einem glücklichen, sorgenfreien Dasein für alle das Motto dieses Vormittags hätte sein können.

Auch die Tänzer des Stuttgarter Balletts treten an im Wissen, dass gerade die Not von Menschen ihren Auftritt nötig macht. Das Wiedersehen mit Friedemann Vogel als Onegin und Elisa Badenes als Tatjana ist trotzdem eine große Freude. Sie zeigen mit bewundernswerter Leichtigkeit, dass Crankos berühmter Spiegel-Pas-de-deux auch ohne Spiegel funktioniert. Wie sich Tatjana die perfekte Liebe herbeiträumt, wie sie sich selbstbestimmt zur Regisseurin ihrer Gefühle macht und nicht Spielball sein will, erklärt auch, was dieses Ballett zum Solitär macht, dessen Porträt einer starken Frau bis heute trägt. Wie man wieder auf die Beine kommt, wenn man auf dem Boden liegt, fragt Katarzyna Kozielska in „As long as“; und Rocio Aleman rappelt sich mit einer bis in die Fingerspitzen flirrenden Neugierde auf, kämpft sich mit weiten, weichen Armbewegungen nach vorn, dass dieses Solo anrührend das Leben feiert. „Umarmung“ heißt Fabio Adorisios Stück, das in immer neuen, spannenden Begegnungen fünf Tänzer aus ihren Isolationen befreit und Gemeinschaft als den glücklichsten aller Zustände beschreibt.

Warum können wir nicht alle Tänzer sein?

Mit „Homem“ schenkt der Stuttgarter Tänzer Alessandro Giaquinto dem Gala-Publikum und dem jungen Kollegen Gabriel Figueredo eine Uraufführung, die eine weitere Station auf seinem Weg zum Ausnahmetänzer markiert. Nicht geballte Virtuosität zeigt das Solo, sondern schlummernde und setzt auf Präsenz, Expressivität, Weichheit. Und Figueredo, noch ein Teenager, tanzt das mit der gelassenen Souveränität, mit der sich ein Raubtier in der Sonne räkelt.

Vorfreude auf „Dornröschen“ machten nicht nur Louis Stiens und Aurora de Mori, die als gestiefelter Kater und Kätzchen so artgerecht wie lustig schmusten und zankten. Auch Hyo-Jung Kang und Adhonay Soares da Silva in der Rolle von Aurora und ihrem Prinzen krönten die Matinee mit einem Pas de deux, der nicht allein mit seinen bravourösen Sprüngen, schwierigen Balancen und wirbelnden Pirouetten beeindruckte. Das Lächeln, das sich die beiden nach besonders kniffligen Passagen schenken, erzählt vom großen Glück der Gemeinsamkeit. Und so bleibt am Ende einer großen Gala ein Wunsch unerfüllt: Warum können wir nicht alle Tänzer sein. Dann sähe die Welt anders aus.