Lulu (Alicia Amatriain) und ihr Mentor Schöning (Roman Novitzky) Foto: Carlos Quezada

Auf der Bühne passieren Dinge, die am Sonntag Millionen vor die „Tatort“-Bildschirme locken. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum man die Neufassung von Christian Spucks Ballett „Lulu. Eine Monstretragödie“ nicht verpassen sollte.

Stuttgart - Was will ich selbst? Was tue ich, weil es andere von mir erwarten? Das sind Fragen, die nichts an Aktualität verloren haben. Ist zudem die Protagonistin eine Frau, wie sie der Choreograf Christian Spuck 2003 in Frank Wedekinds Lulu neu entdecken ließ, dann ist man schnell bei den Themen, die durch die Metoo-Debatte neu befeuert wurden.

Insofern hat Reid Anderson mit seiner Entscheidung, Christian Spucks Ballett „Lulu. Eine Monstretragödie“ nach zehn Jahren wieder aufzunehmen, den Finger am Puls der Zeit. Es ist das richtige Stück zur richtigen Zeit - nicht nur aus der Sicht des scheidenden Intendanten, der in seiner letzten Spielzeit noch einmal auf das erste neue Handlungsballett schauen wollte, das unter seiner Leitung 2003 in Stuttgart entstand.

Der ein oder andere Platz blieb tatsächlich frei

Zuspruch müsste dieses Stück aus anderen Gründen auch jenseits der Ballettgemeinde finden. Und so darf man sich ein wenig darüber wundern, dass bei der Premiere von Christian Spucks Neufassung am Mittwoch im Opernhaus der ein oder andere Platz frei blieb. Schließlich passieren auf der Bühne Dinge, die sonntags Millionen vor die „Tatort“-Bildschirme locken. Mit der Formel „7 + x“ ließe sich zum Beispiel die Frage nach der Zahl der Leichen beantworten; wobei x für die unbekannte Menge der Frauen steht, die Jack the Ripper auf dem Gewissen hat.

Präsent sind die Opfer des Londoner Serienmörders zwar lediglich als Erzählung. Schigolch, den Schurken an der Seite Lulus, machte Christian Spuck quasi zum Pathologen; und der lässt mit wissenschaftlichem Eifer in seinen Berichten keine der Grausamkeiten aus, die den Ermordeten wiederfuhr – 1888 in London und auf der Bühne auch der Lulu.

Ein Moment der Irritation

Schigolchs Monolog ist der erste Moment der Irritation, der sich in dieser „Lulu“-Neufassung einstellt. Die Hotelhalle mit der großzügigen, eine Empore umfassenden Treppe hat Spucks Bühnenbildner Dirk Becker zwar frisch herausgeputzt, sie bleibt aber vertraut. Die Anzüge der Herren hat Emma Ryott körperbetonter nähen lassen, die Kleider der Damen weniger samtschwer. Änderungen also, die wie das Update bei den Projektionen kaum ins Gewicht fallen, ohne die das Stück bei einer Wiederaufnahme aber verstaubt gewirkt hätte. Etwas aus der Zeit gefallen wie der Redefluss Schigolchs. Louis Stiens hat die mit Eric Gauthier gestaltete Rolle nun übernommen. Doch das Englische, das die verhandelte Brutalität der Ripper-Taten auf Distanz hält, kommt ihm zu Beginn nicht so locker über die Lippen, wie man das bei diesem grandiosen Darsteller gewohnt ist.

Als sich Louis Stiens dann frei gespielt, nein: gesprochen hat, erhält der Blick auf diese Figur eine neue Qualität, die exemplarisch für den ganzen Abend stehen kann. Denn sein Vortrag ist nun nicht mehr einfach der pathologisch nüchterne Blick, der von einer zur nächsten Leiche hetzt. Louis Stiens trägt die Worte Schigolchs vor wie eine Anklage, die Gewalt gegen Frauen, Gewalt überhaupt anprangert.

Alicia Amatriain reißt den Zuschauer mit

Aushalten muss sie an diesem Abend Alicia Amatriain. 2003 hat die Spanierin mit Christian Spuck die Rolle der Lulu erarbeitet. Und die stürmischen Bravo-Rufe am Ende sind nicht allein der Fokussierung zu verdanken, der Christian Spuck diesen und alle anderen Charaktere unterzogen hat. Die Spanierin stürzt sich vielmehr mit einem so auffälligen Plus an Reife in diese Frauenfigur, die ihren eigenen Weg sucht und sich von den vornehmlich männlichen Projektionen auf sie zur Not mit Gewalt befreit, dass sie jeden mitnimmt. Leicht lässt sie sich in neue Begegnungen fallen, saugt die Eigenheiten des Gegenübers auf, um sich dann immer wieder umso vehementer dagegen aufzubäumen.

Und so darf, wer dieses Stück zum ersten Mal sieht, erfreut darüber sein, dass ihn diese schwierige Frauenfigur so einfach mitreißt in ihrem Kampf um Selbstbestimmtheit. Wer Spucks „Lulu“ wiederbegegnet, wird sich dagegen fragen, warum sich ihre Aussagen nicht bereits vor 15 Jahren in dieser Prägnanz erschlossen; schließlich war die Konstruktion von Wirklichkeit vom ersten Noverre-Stück an Spucks Thema. Vielleicht liegt es ja tatsächlich an der Zuspitzung, die nun jeder Charakter erfahren hat: Roman Novitzky zeigt Lulus Mentor Schöning als besitzergreifenden Spießer und Inbegriff bürgerlicher Scheinmoral. David Moore hält sich als sein Sohn Alwa auf seine Chance lauernd im Hintergrund, und vergeigt sie dann durch zu starre Erwartungen. Anna Osadcenko lässt sich als Gräfin Geschwitz regelrecht elektrisieren von den Emotionen, die Lulu in ihr auslöst. Noan Alves muss als Maler Schwarz in seiner Naivität scheitern. Und auch Flemming Puthenpurayils feuriger Rodrigo kann Lulus Leidenschaft nur kurz fesseln.

Auch die Fans des Minimalen kommen auf ihre Kosten

Von der ersten Bewegung an da ist die fesselnde Power, die Spucks Choreografien prägt – die Pas de deux ebenso wie die Lulu und ihre Liebhaber vervielfachenden Gruppen. Mitgetragen wird sie von den Musikern des Staatsorchesters, die nicht nur aus dem Graben, sondern auch auf einer Empore der Hotellobby agieren und unter Leitung von James Tuggle die Wechsel von Schostakowitschs walzernder „Ballettsuite“ zum Unheil kündenden „Allegro Misterioso“ von Alban Berg perfekt meistern.

Dafür, dass er Musik nicht nur als Muster für Bewegung benutzt, sondern als Stimmungsträger, Kontrastmittel, Denkanstoß und erzählendes Moment einsetzt, feiert das Publikum Christian Spuck am Ende zu Recht. Und auch, wer den ehemaligen Stuttgarter Haus-Choreografen als Meister des Minimalen schätzt, kommt auf seine Kosten: Eindringlich wie einst ist die Männergruppe, die mit hängender Unterlippe über die rechte Schulter nach Lulu giert, mit Tippelschritten nach links weicht - und das Erniedrigende dieser Situation drückend greifbar macht.

Termin Für die nächsten Vorstellungen am 15., 17., 23., 24. und 30. Juni sowie am 2., 4., 7., 8., 10. und 14. Juli gibt es noch Karten.