Die Choreografin Katarzyna Kozielska studiert mit dem Stuttgarter Ballett ihr neues Stück „Dark Glow“ ein. Foto: Roman Novitzky

Die Choreografin Katarzyna Kozielska steuert mit „Dark Glow“ eine Uraufführung zum ersten Ballettabend der Spielzeit im Stuttgarter Opernhaus am Freitag bei. Der britische Komponist Gabriel Prokofiev hat dazu die Musik komponiert.

Stuttgart - Die neuen Medien sind aus der Tanzwelt nicht mehr wegzudenken: Videos helfen Tänzern beim Einstudieren; Choreografen werben mit ihren Arbeiten auf Youtube, Ensemble-Chefs posten Fotos auf Facebook. Die Stuttgarter Halbsolistin und Choreografin Katarzyna Kozielska hat in den vergangenen Wochen viel Zeit auf Skype verbracht. Ihr Video-Telefonpartner: der britische Komponist Gabriel Prokofiev, Jahrgang 1975. „Manchmal haben wir mehrmals täglich geskyped, zum Teil stundenlang“, erzählt die 35-jährige Polin.

„Mister Prokofiev“, wie Kozielska den Enkel des berühmten Sergej Prokofjew im Gespräch hin und wieder respektvoll nennt, hat die Musik für ihre neue Choreografie komponiert: „Dark Glow“ feiert am kommenden Freitag beim ersten Ballettabend der Saison im Stuttgarter Opernhaus Uraufführung. Gabriel Prokofiev arbeitet und lebt in London, mehr als 700 Kilometer Luftlinie von Stuttgart entfernt. Dank Skype sei trotz der großen geografischen Distanz eine „sehr enge und faszinierende Zusammenarbeit“ möglich gewesen.

Die neuen Medien vereinfachen die Arbeit von Tänzern und Choreografen, ermöglichen neue Formen der Kooperation. Gleichzeitig aber erkennt Katarzyna Kozielska in der Allgegenwart der Technik auch eine Gefahr: „Wenn man in Stuttgart unterwegs ist, starren alle nur noch auf ihre Smartphones. Immer wieder sehe ich Leute im Café sitzen, die in ihre Handys versunken sind, anstatt miteinander zu sprechen.“ Leuchtende Bildschirme, globaler Informationsfluss, Freundschaftspflege via Text-Häppchen: In „Dark Glow“ lotet Kozielska die Verführungskraft der neuen Medien aus. „Verführung!“ lautet der Titel des mit insgesamt vier Choreografien bestückten Abends.

Flankiert von Stars der internationalen Tanzwelt

Aber nicht nur von der Technik, sondern auch von Religionen und der Politik gehe in diesen Zeiten eine große Anziehungskraft aus, so die Beobachtung Kozielskas. Verführbar zu sein, das sei die Natur des Menschen. „Doch meistens ist die Verführung zerstörerisch. Du verlierst darin dein Ich und alles um dich herum, deine Familie, deine Freunde. Das will ich zeigen“. Ihr Stück erzähle dabei weniger eine konkrete Story, sondern sei eher abstrakt angelegt.

Ihrem Auftaktstück folgen drei Arbeiten von Choreografen, die zu den Stars der internationalen Tanzwelt zählen: „Faun“ ist Sidi Larbi Cherkaouis Adaption von Vaslav Nijinskys Skandalerfolg „L’après-midi d’un faune“, uraufgeführt 2009 im Londoner Sadler’s Wells Theatre. Erstmals auf einer deutschen Bühne überhaupt zeigt zudem der Hauschoreograf Marco Goecke seine Interpretation einer ebenfalls mit dem Namen Nijinsky eng verbundenen Choreografie: „Le Spectre de la Rose“, 2009 für Les Ballets de Monte Carlo kreiert. Mit den Originalballetten schrieben Les Ballets Russes und der Impresario Serge Diaghilev zu Beginn des 20. Jahrhunderts Tanzgeschichte. Den Abschluss bildet das Verführungsballett schlechthin: „Bolero“ von Maurice Béjart, zur weltberühmten Komposition von Maurice Ravel.

„Dark Glow“ ist Kozielskas dritte Auftragsarbeit für Reid Anderson – der Ballettintendant hat früh das choreografische Potenzial der Halbsolistin erkannt. Schon 2011 begann sie, für die Noverre-Gesellschaft zu kreieren, längst ist sie auch für andere Ensembles und Häuser kreativ, etwa das Augsburger Ballett, sowie immer wieder auch für Galas. „Kreieren – das ist etwas, was ich ganz dringend in meinem Leben brauche“, sagt die in der John Cranko Schule ausgebildete Tänzerin, die dabei ist, am Eckensee zur festen Choreografie-Größe zu werden, als weiblicher Kontrapunkt zum Haus-Choreografen-Gespann Demis Volpi und Marco Goecke.

Die 18 Arbeiten auf ihrer Werkliste belegen ihre Fähigkeit, starke Bilder sowie eine klassische und moderne Elemente mutig kreuzende Bewegungssprache auf aufregende Weise zusammenbringen. Besonders im Gedächtnis haften blieb unter anderem „A. Memory“, 2014 ihre erste Auftragsarbeit für das Stuttgarter Ballett, in der sie ihre Tänzer mit einer riesigen Netzskulptur der amerikanischen Künstlerin Janet Echelman in einen Dialog treten ließ. 2016 schickte sie ihr Personal dann in „Neurons“ durch die verschiedenen Phasen der menschlichen Gehirnaktivitäten.

Erstmals im Großen Haus, erstmals mit Orchester

Beim Ballettabend „Kammerballette“ vor einem Jahr wurde das Nachwuchstalent von Choreografiemeistern wie Hans van Manen flankiert – dass sie nun wieder neben „big names“ wie Cherkaoui und Goecke firmiert, ist ihr abermals eine Ehre, einschüchtern lässt sich die schmalgliedrige Person dadurch nicht. „Je schneller ich den Druck herausnehme, der von diesen Namen ausgeht, umso eher kann ich mich auf meine Arbeit konzentrieren. Genau das mache ich“, argumentiert sie so selbstbewusst wie pragmatisch.

Reid Anderson eröffnet ihr mit dem neuerlichen Choreografie-Auftrag eine doppelte Premiere: Erstmals arbeitet sie für die Bühne im Großen Haus, erstmals mit Orchester. Dass ihr „Chef“ ihr diese Steigerung ermögliche, sei alles andere als selbstverständlich, „dafür bin ich ihm sehr dankbar“. Aus der Begleitung durch das Staatsorchester sei dann die Idee entstanden, eine Komposition in Auftrag zu geben. Die Wahl fiel auf Prokofiev, zu dessen Musik sie bereits zweimal choreografiert hat, den Pas de Deux „Bite“ sowie „PS“ für den Porsche Tennis Grand Prix. „Ich habe ihn angeschrieben und Videos von beiden Arbeiten geschickt. Die Antwort kam schnell: Lass uns zusammenarbeiten!“

Von der Arbeitsweise Prokofievs, der für Grenzgänge zwischen klassischer und elektronischer Musik steht und auch als DJ in Clubs arbeitet, zeigt sich Kozielska fasziniert: „Das Tolle war, dass er mir nichts Fertiges vorgesetzt hat, sondern zu jeder Passage mehrere Möglichkeiten zur Auswahl anbot.“ Über die Musik wolle sie nicht viel verraten, ebenso wie über die Kostüme, die abermals von Thomas Lempertz stammen. „Neu, anders“ – mit diesen Adjektiven versteht sie es, neugierig zu machen.

Neu sei zudem, dass sie erstmals mit einem richtig großen Team zusammenarbeite: Komponist, Kostümbildner, dazu eine Dramaturgin, die Ballettmeisterin Yseult Lendvai und nicht zuletzt ihr Mann und Vater ihrer siebenjährigen Tochter: der frühere Tänzer und Ballettmeister Damiano Pettenella, der für die Lichtregie verantwortlich zeichnet; auf seinen Part darf man angesichts des Titels „Dark Glow“ besonders gespannt sein. „Ich bin nicht diejenige, die Befehle gibt, sondern wir arbeiten gemeinsam daran, dass ein Werk aus einem Guss entsteht“. Katarzyna Kozielska – die Tanz-Teamplayerin.