Das Stuttgarter Ballett überzeugte mit „Atem-Beraubend“ Foto: Stuttgarter Ballett

Zur letzten Premiere dieser Spielzeit hat sich das Stuttgarter Ballett mit „Atem-Beraubend“ von seiner besten zeitgenössischen Seite gezeigt.

Stuttgart - Im Zeichen des Rhythmus „Dha-ka-da, dha-ka-da, dha-ka-da ...“ Unglaublich rasant schallen die zungenbrecherischen Silben durch den Raum, geben Schlagzeugern, Tänzerinnen und Tänzern den Takt vor, wie das im indischen Tanz Kathak üblich ist. Der Rhythmus ist dessen Herzschlag, die Erzählung und der Dialog, die Perkussion bildet die Basis der Musik. Denn Kathak meint neben Musik und Tanz auch Schauspiel – jede Körper- und Fingerhaltung, jede Arm- und Kopfbewegung haben Bedeutung.

Und so reihen, biegen und drehen sich die Tänzer in langen schlichten Gewändern, die Männer mit freiem Oberkörper, über die Bühne, folgen der Rezitation und tief schwingenden Trommeln, treibendem Klopfen, gewürzt mit manch metallenem Klirren und Elektro-Nachhall. Trotz des Tempos immer Haltung bewahrend, mal die Hände an lang ausgestreckten Armen mal abgeknickt wie der Kopf einer Kobra, mal Zeigefinger und Daumen zum Gyan Mudra geformt, wie man es von Buddha-Skulpturen oder Darstellungen des indischen Gottes Shiva in Tempeln kennt, immer wieder gebrochen mit zeitgenössischen Elementen, tiefen Ausfallschritten oder hohen Kicks.

Denn weder Musiker noch Tänzer befinden sich im Tempel, sondern im Opernhaus der Landeshauptstadt: Vor einer schlicht, gleichwohl wirkungsvollen rechteckigen Projektion mit sich ändernden Farbverläufen des Künstlers Anish Kapoor gibt das Stuttgarter Ballett Akram Khans „Kaash“ – Hindi für „wenn nur“ oder umgangssprachlich für „Schön wär’s“. Will doch der gefragte britische Choreografen mit den bangladeschischen Wurzeln so Brücken zwischen zeitgenössischem Tanz und dem indischen Tanz schlagen.

Finale des dreiteiligen Abends

Es ist das Finale des dreiteiligen Abends „Atem-Beraubend“, der letzten Premiere dieser Spielzeit. Und da zeigte sich das Stuttgarter Ballett von seiner besten zeitgenössischen Seite, bei der Intendant Tamas Detrich unbedingt Akram Khan dabei haben wollte. Der sagte denn auch zu, weil er den Geist und die Energie des Ensembles spürte. Für das hiesige Ballett hat er „Kaash“, das er 2002 für seine eigene Company schuf und 2017 für das Königliche Ballett Flandern überarbeitete, nochmals weiterentwickelt.

Und ihre Khan-Erstaufführung meisterten die Stuttgarter grandios. Friedemann Vogel lieferte ein faszinierendes Solo aus Muskel- und Mudra-Spielen unter hartem Lichtkegel ab – dabei, wie die anderen 13 Tanzenden, die eigene DNA der Klassik zum Besten nutzend. Die Leidenschaft, mit der sich die Truppe in das Bewegungs-Neuland stürzte, sprang auf das Publikum über, das zu Recht nicht aufhören wollte zu applaudieren. Die Ovationen galten auch den Musikern des Staatsorchesters, die unter James Tuggles Taktstock Nitin Sawhneys Live-Version für fünf Schlagzeuger von Thomas Höfs und Kurt Holzkämper interpretierten, als gäbe es kein Morgen.

„Out of Breath“ in Stuttgart zum ersten Mal zu sehen

Das kann man auch für die Streicher sagen. Sie spielten zum zweiten Stück des Abends – „Out of Breath“ des schwedischen Choreografen Johan Inger – „There must be some way out of here“ aus Jacob Ter Valdhuis Streichquartett Nr.3 und Félix Lajos „Vonósnégyes String Quartett“ derart mitreißend, dass es auch manchem Zuschauer die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Die sechs Tänzerinnen und Tänzer trugen das Ihrige dazu bei. Uraufgeführt 2002 beim Netherlands Dance Theater II, war „Out of Breath“ in Stuttgart zum ersten Mal zu sehen.

Inspiriert von der schweren Geburt seiner Tochter feiert Inger darin die Fragilität des Lebens, aber gerade deshalb auch dessen Wert. Wie sechs Paare einen auf dem Boden liegende, schräg aufsteigende organische Bogenform mit einer Kante, die kaum breiter als zwei Fußbreit ist und wie die Grenze zwischen Dies- und Jenseits anmutet, umtanzen, umrennen, bespringen, auf dem schmalen Grad kurz laufen, sie übersteigen – das erfordert Akrobatik und Ausdruck. Agnes Su, Elisa Badenes, Hyo-Jung Kang, Jason Reilly, Shaked Heller und Louis Stiens brachten beides mit. Nicht zu vergessen, das Gefühl für die klare, ja eckige Bewegungssprache des Schweden: Inger lässt die sechs kantig marschieren, aus dem Nichts springen, verquer verzweifeln, freudig jeden Fortgang aus dem Dilemma feiern. Jede Pose wird zum Bild – auch hier wieder von Inger für die Tänzer überarbeitet.

Von der Megacity Tokio inspiriert

Ein monumentales Gruppenbild mit zehn Damen und neun Herren lieferten sie zum Auftakt des Abends in „Hikarizatto“ von Itzik Galili ab. Der Israeli schickte die Stuttgarter zum raffinierten Spiel auf eine Art Lichtschachbrett, dessen Wege und Konstellationen sich immer wieder ändern – zur mitreißenden Perkussionskomposition von Percossa alias Niels van Hoorn und Janwillem van der Poll. Mit Kicks bis zur Decke, dabei den Boden berührend, Extrem-Spagatsprüngen und herausfordernden Hebungen wurde einzeln, zu zweit, zu viert und schließlich in allerlei Paarverbindungen das Leben erkundet. Galili ließ sich zu „Hikarizatto“, das 2004 beim Stuttgarter Ballett uraufgeführt wurde, von der Megacity Tokio inspirieren, von dessen künstliche Über-Beleuchtung und Überfüllung, bei der die Grenze zwischen Nacht und Tag einerseits verschwimmen, andererseits überdeutlich akzentuiert wird.

Entsprechend lässt Galili Lichtquadranten an- und ausgehen, zu Diagonalen oder rechtwinkligen Wegen werden, Tänzer darauf quasi an- und ausknipsen, ihre Wege im und aus dem Licht, mitunter fast atemlos, erkunden. In vorgegebener Bewegungs- und Licht-Geometrie: Aus der wird immer wieder ausgebrochen, wie in einem Netzwerk Verbindungen neu ausgetestet, bis es in einem Fanal endet. Fazit: Alle drei Stücke sind so aktuell wie eh und je, „Atem-Beraubend“ ist der Abend nicht nur für die Tänzer, von denen man sich mehr Zeitgenössisches wünscht.

Weitere Termine: 21. und 24. Juli, dann wieder in der neuen Spielzeit ab Herbst.