Inge Jens zog die Zuhörer ihrer Lesung in ihren Bann. Foto: Georg Linsenmann

Die Schriftstellerin Inge Jens hat in der Pauluskirche bei einer Lesung berührend und voller Haltung von der Demenz ihres Mannes Walter Jens erzählt, der 2013 gestorben ist.

Stuttgart-Zuffenhausen - Wenn Inge Jenszu einer Lesung kommt, dann ist im Geiste des Publikums selbstredend Walter Jens präsent. Ihr Mann, der berühmte Tübinger Professor, der große Gelehrte, der als einer der Allerletzten das gelebte Ideal humanistischer Bildung von den Wurzeln in der Antike bis ins Heute sogar ein wenig unters Volk zu bringen wusste. Etwa, wenn er über Fußball sprach, was sich schnell zu einer „republikanischen Rede“ auswuchs bei diesem großen, öffentlich wahrgenommen Intellektuellen der jungen Bundesrepublik. Als Ehefrau gerät man leicht in den Schlagschatten solcher Berühmtheit, selbst wenn man Ergebnisse eigenen geistigen Schaffens vorzuweisen hat, auch solche aus gemeinsamer Autorschaft.

Ein Thema, das schon Elisabeth Schneeweiß-Bauer in ihrer sensibel charakterisierenden Begrüßung von Inge Jens anschnitt und das Eva Röhm-Blum in ihrer Gesprächsmoderation nach der Lesung explizit ansprach, zusammengefasst in der Frage: „Wie lebte es sich mit Walter Jens?“ Eine Frage, die gewöhnlich ein wenig „Zusatzinformation“ abwirft – die Zuhörer in den dicht gefüllten Reihen der Pauluskirche aber ins Zentrum des Phänomens führte. Und zwar nicht belastet und in Trostlosigkeit einsinkend, obwohl es das Thema nahelegte: „Langsames Entschwinden – Vom Leben mit einem Demenzkranken“, so der Titel des Buches, in dem Inge Jens die fast zehn Jahre währende Krankheit ihres 2013 verstorbenen Mannes thematisiert.

Geteilte geistige Existenz

Wie also lebte es sich mit Walter Jens? In ihrer Antwort macht Inge Jens deutlich, dass es viele der Bücher von Walter Jens ohne sie nicht gegeben hätte. Denn sie war die Frau, die die Archivarbeit liebte, er derjenige, „der schnell schrieb“: „Wenn ich nicht recherchiert hätte, hätte er nicht schreiben können“, sagt Inge Jens und fügt hinzu: „Wir haben uns ergänzt und sind dabei mit großer Leidenschaft und Lust tätig gewesen.“ Es ist der Satz, der hier das eminent dialogische Moment der Beziehung dieses Paares über das Nachlesbare hinaus ganz unmittelbar gegenwärtig macht. Er spiegelt gelebtes Leben, die geteilte geistige Existenz und einen auch gemeinsam erworbenen, inneren Besitz, in der diese Mischung aus Haltung, Wärme und Schmerz, die das Buch trägt, als Ausdruck einer in sich ruhenden, starken Persönlichkeit erlebbar wird: Das sind die Momente, die eine Lesung zu etwas Unvergesslichem machen! Zumal Inge Jens, eben 90 geworden, sich noch von erstaunlicher Spannkraft zeigte, brillant und ausgreifend formulierend wie eh und je. Besonders berührt waren die Besucher, die sich später Bücher signieren ließen, von der Zugewandtheit, mit der Inge Jens jeden Einzelnen bedachte.

Mit ihrer Lesung hatte sie die Zuhörerschaft tief mit hineingenommen ins lange Abschied nehmen zu müssen von einem geliebten Menschen, präludiert vom Hinweis über teils desolate Verhältnisse im Umgang mit Demenz selbst in einer dafür spezialisierten Abteilung der Uni-Klinik Tübingen. Im Kern kreist das Buch von Inge Jens um den Verlust des Dialogischen, um den Sprachverlust ihres Mannes, um den Schmerz, sich nicht mehr verständigen zu können – und um die nicht lösbare Frage, was in dem geistig Entschwindenden vor sich gehe. Am Ende bleibt, neben unverbrüchlicher Zuwendung, eine aus Dankbarkeit für das geteilte Leben und aus Demut vor der Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz geborene Einsicht: „Aber er ist ein Mensch, und das ist das große Erlebnis für mich: bis zu welchen ,Tiefen‘ ein Mensch ein Mensch bleibt.“ Eine Haltung, die zugleich ein Trost ist.