Estelle Schmidlin und Nela Awokou als Schwestern Foto: JES/Andreas Etter

Wenig Handlung, großes Theater: Im neuen Stück im JES steht eine Zehnjährige auf der Bühne. Kann sie mit der professionellen Kollegin mithalten?

Es müssen stattliche Haare gewesen sein. Sie wurden gewaschen, zu einem Strang gewickelt – und dann hing die Mutter droben in der Kuppel des Zirkuszelts an diesem Zopf. Es scheint ein besonderes Leben gewesen zu sein, das die rumänische Familie von Stadt zu Stadt brachte. Der Wohnwagen war ihr Zuhause – und wo auch immer sie Halt machten, es roch darin immer nach Heimat. Doch die Idylle bekommt Kratzer in dem Roman „Warum das Kind in der Polenta kocht“, in dem Aglaja Veteranyi (1962–2002) auch ihre eigene Biografie verarbeitete. Sie kam selbst aus einer Zirkusfamilie.

Die harten Details aus dem Roman wurden gestrichen

Im Jungen Ensemble Stuttgart (Jes) steht die Hauptfigur nun mit einer Doppelgängerin auf der Bühne. Yeşim Nela Keim Schaub hat den Roman für Kinder ab zwölf Jahren inszeniert. Keine leichte Kost, denn auch wenn die Geschichte in der Bühnenfassung entschärft wurde und die düsteren Seiten dieser Kleinfamilie – Alkohol, Prügel, Missbrauch – beherzt gestrichen sind, geht es doch um Heimatlosigkeit und die Einsamkeit dieses Mädchens. Von heute auf morgen muss sie dem Vagabundenleben adieu sagen und wird mit ihrer großen Schwester ins Kinderheim verfrachtet. Die Eltern haben sie einfach weggegeben, und sie müssen nun „viele Häute haben, um sich zu wehren“.

Die Sprache ist betörend und stark

In schöner, bildreicher Sprache beschreibt die Autorin, wie die beiden Mädchen nach Auswegen aus der Tristesse suchen. Sie trinken Wasser aus einem Kuhtrog oder erzählen sich die böse Geschichte vom Kind, das im Polentatopf verkocht, grad so, als wollten sie sich mit Schauer abhärten, so dass sie immer grusligere Varianten erfinden, wie das Kind zu Tode kommt.

Auch wenn „Warum das Kind in der Polenta kocht“ gern im Theater gespielt wird, ist es kein Stück mit Handlung, deshalb hat das Jes-Team Bilder und Szenen entwickelt, die die Gefühlslage der Mädchen zum Ausdruck bringen. Neben Estelle Schmidlin, seit kurzem Ensemblemitglied, spielt die zehnjährige Nela Awokou. Die beiden machen ihre Sache gut, mal turnen sie an meterlangen Zöpfen, die von der Decke baumeln, mal tanzen sie oder trösten sich singend mit einem Lied aus der alten Heimat.

Es ist ein rührendes Paar, klein und groß im Partnerlook, doch auch hier wird das Glück brüchig. „Du musst auch mal ohne mich klarkommen“, sagt die große Schwester schließlich. Und als Nela Awokou allein zurückbleibt, kommen Zweifel auf, ob es die Schwester überhaupt gegeben hat oder auch sie nur der Fantasie eines Kindes entsprungen ist, das die Eltern weggegeben haben, weil es zu teuer war. „Jeder Mensch braucht ein Zuhause“, sagt sie zum Schluss dieses traurigen Abends – und weil sie kein Zuhause hat, muss ihr blaues Tuch herhalten. So rettet die Fantasie das Kind letztlich aus der Einsamkeit. Das blaue Tuch sei das Meer, erklärt sie, das sie jetzt immer bei sich habe.

Die zwei Schauspielerinnen bilden ein schönes Paar

Warum das Kind Polenta kocht: Vorstellungen 17. bis 19., 26. und 28. April im Jes