Das Stuttgarter Klärwerk in Mühlhausen ist das größte im Land. Es verbraucht viel Strom. Der soll bald in größerem Maß als heute in der Anlage selbst erzeugt werden.
Die drei Stuttgarter Klärwerke in Mühlhausen, Plieningen und Möhringen zählen zu den hungrigsten Stromverbrauchern in der Stadt. Allen voran die Anlage am Neckar, sie ist die größte Kläranlage im Land, darauf ausgelegt, jährlich an die 60 Millionen Kubikmeter Schmutzwasser aus Stuttgart, Esslingen, Fellbach, Korntal-Münchingen, Kornwestheim und Remseck zu reinigen.
Der Betrieb der Kläranlage Mühlhausen benötigt rund 26 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr. Der Wert liegt knapp über dem für die gesamte Straßenbeleuchtung und die Ampelanlagen in der Stadt.
Eigenerzeugung jetzt bei 50 Prozent
Die eigene Energieerzeugung konnte im Klärwerk über die Jahre durch den Einsatz eines Blockheizkraftwerks und einer Dampfturbine gesteigert werden, inzwischen liege man bei rund 13 Millionen Kilowattstunden im Jahr, sagt Boris Diehm, der Leiter der Abteilung Klärwerke und Kanalbetrieb im Eigenbetrieb Stadtentwässerung (SES). Die Hälfte des benötigten Stroms muss also noch zugekauft werden. Dieser Einkauf soll nach und nach zurückgehen. Bis zum Jahr 2035, das vom Gemeinderat vor wenigen Wochen zum Zieljahr der Klimaneutralität Stuttgarts bestimmt worden ist, wolle man 90 Prozent Eigenerzeugung haben, sagt Diehm.
Platz ist im Klärwerk Mangelware
Zwar bedeckt das Hauptklärwerk entlang des Neckars rund 25 Hektar, Platz ist dennoch Mangelware, die Becken, Gasspeicher, Öfen und Faultürme reihen sich eingezwängt zwischen Aldinger Straße, Fluss und einem riesigen Baumarkt aneinander, eine weitere Reinigungsstufe muss auch noch untergebracht werden. Wer hier eine Photovoltaikanlage aufbauen will, muss den Bestand überbauen. Bei den großen Vorklärbecken mit 60 Meter Durchmesser geht das nicht. Sie sind zwar zur Geruchsminimierung bereits überdeckt, „die spezielle Tragkonstruktion lässt aber nicht zu, dass wir da noch viel drauflegen“, sagt Diehm. Für runde Becken sei „noch kein sinnvolles System auf dem Mark“, bedauert er.
Schweizer mit pfiffiger Lösung
Anders sieht es bei den beiden biologischen Reinigungsstufen aus, die im Norden und Süden der Anlage positioniert sind. Hier liegen lang gezogene Belebungsbecken, je neun oder 18 Meter breit, direkt nebeneinander. Für diese offenen Klärbecken hat das Unternehmen DHP technology AG aus der Schweiz eine pfiffige Lösung ersonnen. „Unsere Vision ist eine zeitgemäße Energieversorgung“, sagen die DHP-Gründer Giani Andri Diem und Andreas Hügli. Dazu entwickelten sie ein Solar-Faltdach. Es kommt mit wenigen Stützen aus. Die Photovoltaikmodule hängen an gespannten Stahlseilen einige Meter über den Becken und können entlang dieser Seile aufgeklappt und unter einen Wetterschutz zusammengeschoben werden. Zum Beispiel im Winter oder wenn die Becken zu Wartungszwecken von oben zugänglich sein müssen. Manchmal müssten Rührwerke oder Lüfter ausgewechselt werden, sagt Diehm. Dann ist ein Kraneinsatz nötig, weshalb kein starres Solardach aufgebaut werden kann.
Versiegelte Fläche wird doppelt genutzt
Die Schweizer haben sich ihr System patentieren lassen und erstmals 2018 über einem Klärbecken in Chur in Graubünden auf 5500 Quadratmetern als Pilotprojekt installiert. Dort werden etwa 550 000 Kilowattstunden Solarstrom pro Jahr produziert. Weitere Anlagen über Klärwerken in der Alpenrepublik folgten und folgen, auch ein Parkplatz im Appenzellerland mit Ladestationen für E-Autos wurde überdacht. So würden bereits versiegelte Flächen doppelt genutzt, werben die Erfinder.
In Stuttgart könnten in der ersten Ausbaustufe über dem Belebungsbecken Nord 18 300 Quadratmeter genutzt werden, das würde etwa 1,8 Millionen Kilowattstunden (kWh) pro Jahr erbringen. Über den Belebungsbecken im Süden wären es etwa 13 700 Quadratmeter und rund 1,3 Millionen kWh pro Jahr. Allerdings erst ab 2032, denn diese Becken müssen zunächst erneuert werden. Primus in Deutschland wäre man damit nicht mehr. In Neuwied in Rheinland-Pfalz soll eine Photovoltaik-Ziehharmonika ab Dezember über einem allerdings nur 1200 Quadratmeter großen Becken installiert werden.
Lange Amortisationszeit ändert sich
Diehm und die SES-Mitarbeitenden haben Aufwand und Ertrag der in vier Meter Höhe hängenden Module durchgerechnet und einen zweistelligen Millionenbetrag für die Investition angesetzt. Der Aufwand würde sich nach 24 Jahren amortisieren. Das ist eine lange Zeit, der Wert aber relativ: „Wir haben mit einem Strompreis von sieben Cent brutto pro Kilowattstunde gerechnet, jetzt liegen wir bei 21 Cent“, sagt der Abteilungsleiter.
Im Frühjahr 2023 soll das Projekt dem SES-Betriebsausschuss, also Mitgliedern des Gemeinderates vorgestellt werden, zuvor läuft eine Marktanalyse, denn inzwischen seien neben dem DHP-System ähnliche verfügbar. Man wolle aber nicht nur ein möglichst günstiges System, sondern „das mit der maximalen Energieausbeute“, so Boris Diehm. Der nächste Schritt in Richtung Energie-Autarkie soll schließlich möglichst groß sein.