Wo sich heute das Europaviertel befindet, standen einst Güterzüge. Foto: Stadtmessungsamt Stuttgart

Mit Luftbildern des Stadtmessungsamts aus den Jahren 1955 und 2015 zeigen wir in unserer neuen Serie die rasante Entwicklung Stuttgarts auf. Rund um den Hauptbahnhof ist der Umbruch besonders extrem.

Stuttgart - War das die gute alte Zeit? Noch ging kein Riss durch die Stadt. In den Aufbruchsjahren des Wirtschaftswunders war der Weg zu Stuttgart 21 noch sehr, sehr weit – und der Hauptbahnhof war noch vollständig, nicht seiner Flügel beraubt. Auf dem alten Foto aus den 1950ern sieht man winkende Damen vor einem Zug. Etliche tragen Kostüm oder gar ein Hütchen. Um die eine Hand hängt ein schickes Täschlein, die andere Hand ist zum Abschied erhoben. Es war die Zeit, als man noch Bahnsteigkarten kaufen musste. Erst 1965 kündigte die Deutsche Bundesbahn an, auf allen Bahnhöfen die Bahnsteigsperren abzuschaffen.

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Auf dem Luftbild von 1955 können wir sehen, was sich auf der Fläche zwischen den Gleisen und der Heilbronner Straße befand, auf der seit 2011 die Stadtbibliothek steht. Es war ein Abstellplatz für Güterzüge. Heute hat hier die Literatur ihre Heimat gefunden. Europaviertel, so nennt sich das Quartier, das mit dem Bahnhofprojekt Stuttgart 21 entsteht und Provinzialität abstreifen will. Der Kubus des südkoreanischen Architekten Eun Young Yi – die Adresse lautet: Mailänder Platz – wird als stolze Bibliothek inzwischen nahezu körperlich bedrängt von Banken- und Einkaufsgebäuden auf dem ehemaligen Güterzuggelände. Keiner weiß, wie das die Mailänder finden, dass man ausgerechnet diesen Platz nach ihnen benannt hat.

Die Gleise haben sich heute im Vergleich zu 1955 vom Bahnhof entfernt. Die Baustelle von Stuttgart 21 breitet sich immer weiter aus. Fahrgäste müssen weiter zum Einsteigen in den Zug gehen. Die neue Aufnahme in unserem Vergleich stammt aus der letzten Befliegung des Stadtmessungsamts vom Frühjahr 2015. Seitdem hat sich noch mehr verändert – seitdem sind noch mehr Baustellenfahrzeuge unterwegs, stecken noch mehr Autos im Stau fest.

Paul Bonatz war 33 Jahre alt, als er sich 1910 mit seinem Kollegen Eugen Scholer im Architektenwettbewerb gegen 70 Konkurrenten durchgesetzt hat. Seinen Entwurf für den Hauptbahnhof nannte er „Umbilicus Sueviae“, den „Nabel Schwabens“. Seine Auftraggeber verwarfen ihren Plan, einen Durchgangsbahnhof mit umfangreichen Tunneln zu bauen – denn 95 Prozent der Reisenden gaben damals an, Stuttgart sei ihr Ziel. 1922 wurden die ersten vier Bahnsteige des Hauptbahnhofs dem Verkehr übergeben. Sechs Jahre später war die gesamte Anlage mit 16 Gleisen fertig.

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Auf beiden Vergleichsfotos müsste sich, was sich jedoch nicht erkennen lässt, der Mercedes-Stern auf dem Bahnhofsturm befinden. 1952 hat man den Stern mit einem Pferdefuhrwerk angeliefert und mit Seilwinden hochtransportiert. Wesentlich mehr Bäume standen damals im Mittleren Schlossgarten. Für den unterirdischen Bahnhof sind sie gefällt worden. Die gute alte Zeit, sofern sie es jemals gegeben hat, ist vorbei. Im Herbst 2010 fiel als Erstes der Nordflügel des denkmalgeschützten Bahnhofs. Kurz danach kam es zu einem gewaltsamen Polizeieinsatz gegen Demonstranten, der als Schwarzer Donnerstag ein trauriges Kapitel in der Stadtgeschichte einnimmt.

Ein großer Graben geht durch die Stadt. Manchmal wünscht man sich, man könnte ein Vöglein sein und davon schweben – auf dass die Baustellenstadt für eine Weile nur noch harmlos, ja niedlich von oben aussieht, wie auf den Luftbildern unserer Serie.