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Als "Tatort"-Kommissar Thorsten Lannert zieht Richy Müller nur äußerst ungern die Waffe.

Stuttgart - Richy Müller ist "Tatort"-Kommissar in Stuttgart. Er arbeitete mit Regisseuren wie Einar Schleef und Christian Petzold zusammen, drehte auch schon in Hollywood. Doch der Weg zum Charakterdarsteller war für den gebürtigen Mannheimer hart.

Machen. Machen. Machen. Der Mann liebt dieses Wort, er konjugiert es an diesem Tag gefühlte hundertmal, zärtlich, als wären es die Kosenamen einer Geliebten. Vom Wort Kunst aber will er nichts hören. "Kunst? Mit dem Begriff Kunst tue ich mich für meine Arbeit schwer. Ich übe ein Handwerk aus."

Richy Müller sitzt in einem Münchner Restaurant. In sich ruhend wie ein Buddha, mit graublauen Augen sein Gegenüber unablässig fixierend. Im Gespräch mit diesem kleinen großen Mann mit der markanten Nase ist man ganz bei sich, fühlt sich im imaginären Schneidersitz wie auf einem Floß treibend, während um einen herum der reißende Strom gurgelt.

Mittagszeit - beste Ablenkungszeit. Die Angestellten der umliegenden Büros haben wenig Zeit und schnellen Hunger. Die Espressomaschine zischt, die Gabeln kratzen auf den Tellern. Richy Müller lässt nichts an sich heran, erzählt ohne Hektik von seinem Leben, vom Handwerk, das keine Kunst sein will: wie er zum "Tatort"-Kommissar wurde und überhaupt zu einem der charaktervollsten deutschen Schauspieler. "Schauspieler? Der Begriff gefällt mir nicht. Ich spiel ja nichts vor. In dem Moment lebe ich das."

Ein Filmarbeiter also. Das schrieb mal ein Berliner Kollege über ihn. Wahrscheinlich hatte sich der Journalist im Gespräch mit Richy Müller genauso schwer getan. Um aber zu verstehen, warum dieser Filmarbeiter Richy Müller derart vorsichtig mit Berufsbezeichnungen umgeht, muss man ganz vorn anfangen. In Mannheim, in einer Kneipe namens Uni-Klub. Irgendwann in den Siebzigern sitzen drei Freunde beim Bier: Daniel, Uli und Hans-Jürgen. Der Abend plätschert vor sich hin. Und dann haut plötzlich einer auf den Tisch und macht dem Hans-Jürgen einen irren Vorschlag: "Warum gehst du nicht auf eine Schauspielschule."

Hans-Jürgen arbeitet zu dieser Zeit als Werkzeugmacher, er ist nicht auf den Mund gefallen, hat aber keine Ahnung vom Theater. Seine Eltern sind einfache, fleißige Leute, die ihr Brot mehr schlecht als recht mit einer Wirtschaft verdienen, da geht man abends nicht ins Schauspielhaus. Der Junge hat eine Empfehlung fürs Gymnasium, aber man schickt ihn in die Hauptschule. Das lief damals so. Anpassung statt Selbstverwirklichung. Und Bescheidenheit.

Zur Aufnahmeprüfung an die erstbeste Schule

Die Müllers geben ihrem Sohn Liebe und Geborgenheit, überfordern wollen sie ihn nicht. Hans-Jürgen findet die Idee trotzdem gut, mal was anderes zu machen, als jeden Morgen zur Frühschicht anzutreten, und die Finger in Texte statt in Maschinenöl zu tauchen. Jemand empfiehlt ihm drei Stücke, aus denen er vorsprechen soll: Eine Szene aus "Andorra" von Max Frisch, dazu Christian Dietrich Grabbe und Goethe. Er fährt zur Aufnahmeprüfung in die erstbeste Schule, nach Bochum (eine der besten) - und wird sofort angenommen. "Ich habe es einfach gemacht." Da ist es wieder, das Macher-Wort.

Er ist glücklich, fühlt sich frei, zu frei vielleicht. Nach zwei Jahren ist Hans-Jürgen wieder am Anfang, raus aus der Schauspielschule, ohne Abschluss. Mit 23 Jahren. Er konnte es nicht ertragen, dass jemand bei den Proben fertiggemacht wurde.

Er versucht sein Glück in Berlin, hat einen Tipp - und so ein Gefühl im Bauch, dem er sein Leben lang folgt. Und tatsächlich: Er bekommt die Hauptrolle in Marianne Lüdckes Fernseh-Dreiteiler "Die große Flatter". Es ist die Geschichte einer Freundschaft zwischen Schocker und Richy, die mit ihren Familien in einer Obdachlosensiedlung am Stadtrand leben. Richy klaut und träumt von der "großen Flatter", der Karriere als Rockstar. Abheben statt Anpassen. Doch Richys speckige Lederjacke taugt nicht zum Fliegen. Es ist der Durchbruch. 22 Millionen Menschen sehen den Film, 1979. Alle nennen den Hans-Jürgen ab sofort nur noch Richy, er selbst tut das auch. Welcher Star heißt schon Hans-Jürgen Müller? "Ich war über Nacht bekannt", sagt Richy Müller heute, "aber ich selbst kannte mich nicht, wusste weder, wer oder was ich war."

Richy Müller mag keine Journalisten, heißt es. Er will kein Partybär im Medienzirkus sein, bloß das nicht. Wenn ihm etwas nicht passt, dann verwandelt sich der sanftmütige Buddha in jenen Richy in Lauerstellung, der ihm beinahe die Karriere vermasselt hat. Fairerweise warnt er sein Gegenüber mit einem lakonischen Zug um den Mund. Wahrscheinlich denkt er gerade: Wenn's nicht läuft, dann steh' ich auf und geh'. Das Revier ist markiert.

Dann bleibt er doch sitzen, länger als eine Mittagspause lang, und plötzlich ist er der Einzige im Raum, der zu hören ist. Richy Müller ist ein Raumeroberer, dabei ist seine Stimme nie aggressiv, sondern klar und angenehm angeraut, als würde man sich ein frisch gewaschenes T-Shirt überziehen. Er ist konzentriert und sieht doch alles. Ein Kellner stolpert, Richy Müller greift zu, stützt ihn. Dann justiert er sich wieder. Seinen Körper hat er unter Kontrolle, er war Leistungsturner. Kontrolle, auch so ein Wort, das er gern im Mund hin und her wendet, während er mit seinen Händen auf dem Holztisch Empfindungen und Gefühle zeichnet. Die Wut ist eine ruhige Faust.

Zu Beginn des Gesprächs kokettiert er lediglich mit dem Image vom "bösen" Richy. Es stammt aus der Zeit nach der "Flatter", als man ihm Drehbücher mit prolligen Figuren anbietet. Er lehnt fast alles ab und tröstet sich in den Achtzigern auf der Bühne. Er arbeitet mit Robert Wilson und Einar Schleef.

Theater ist eine harte Schule

Regiegötter. Jeder andere hätte dieses Kapitel in der Vita fett unterstrichen. Richy Müller winkt ab. Für ihn ist das Theater eine harte Schule des Wartens und Erduldens. Wilson sei unterkühlt, sagt er, die Menschen seien ihm egal gewesen. Und bei Schleef habe man nie gewusst, was der eigentlich von einem sehen will. Um zu veranschaulichen, wie es war, vor einem zu stehen, der auf irgendetwas wartet und mit seiner unflüssigen Sprache ringt, gibt Richy Müller im Restaurant den Stotterer. Minutenlang imitiert er jetzt Schleef, was schrecklich böse und schön zugleich ist.

Er spricht ungern über die Achtziger. Vieles ekelt ihn an. Die Egozentrik des Theaterbetriebs, die Isolation von der Wirklichkeit, die Schleimereien. Was will man auch machen, wenn der Kollege dem Regisseur bei der Probe eine Flasche Wodka als kleine Aufmerksamkeit schenkt? Vielleicht beim nächsten Mal selbst ein Geschenk mitbringen? Nein, Richy Müller ist keiner, der sich die Gunst des Regisseurs erkauft. Freunde am Theater hat er nicht. Nach den Vorstellungen fährt er im Auto stundenlang durch die Stadt und hört Tom Waits.

Dann ein Anruf von Rainer Kaufmann. Der Regisseur, der gerade die Münchner Filmhochschule absolviert hat, erlöst Richy Müller mit dem Film "Einer meiner ältesten Freunde" vom Dasein als Lonesome Cowboy. An der Seite von Maria Schrader und Peter Lohmeyer spielt er einen Juristen. Die Dreiecksgeschichte bedeutet 1994 den Wendepunkt. Richy Müller spielt nun alles, den Pfarrer in "Irren ist männlich" oder den Geldeintreiber in "Die Apothekerin". 2002 dreht er in Hollywood "xXx - Triple X" mit Vin Diesel und Samuel L. Jackson.

Seit 2008 ist er "Tatort"-Kommissar in Stuttgart. An diesem Sonntag ist "Die Unsichtbare" im Ersten zu sehen, es geht um eine ermordete Ukrainerin, die mit ihren Kindern illegal in Deutschland gelebt hat. Als Thorsten Lannert löst Richy Müller den Fall auf seine nicht unbedingt gesetzestreue Weise. Lannert widert die Abschiebepraxis an, er hilft instinktiv, ohne den Gutmenschen raushängen zu lassen.

Richy Müller ist vor allem dann stark, wenn er den Nonkomformisten gibt, die Heuchelei der Intellektuellen und der Großbürger verlacht. In der Jugend war Clint Eastwood sein Held, "Dirty Harry". Auch wenn er die Lederjacke längst abgestreift hat, ein Anzugträger ist er nie geworden - weder im Film noch im Leben. Immerhin sei er ruhiger geworden, sagt er, hat zwei Kinder, ist aufs Land gezogen, ins Chiemgau. Der "Tatort" sei perfekt für die zweite Lebenshälfte, zwei Filme im Jahr, richtig gute Drehbücher, ein tolles Team. Richy Müller ist 55 Jahre alt.

Seinen vielleicht stärksten Part hat er in Christian Petzolds Filmdrama "Die innere Sicherheit" (2000), der die Paranoia der RAF-Jahre mit einer gespenstischen Familiengeschichte umschreibt. Richy Müllers Rolle als Vater ist minimalistisch angelegt, es ist die Kunst des Weniger, auch wenn er es als Handwerk beschreiben würde. Da ist immer wieder dieser lange Blick, mit der er seiner Partnerin Barbara Auer und dem Zuschauer alles sagt, von der Angst und vom Hass erzählt. "Ich muss mit meinem Gesicht gar nicht viel machen", sagt Richy Müller. "Ich habe die Gabe, eine Projektionsfläche zu sein." Er glaubt, dass die Menschen in diesem narbigen Antlitz etwas sehen, was sie manchmal sehen wollen. Das Unsagbare. Die eigenen Illusionen. Die Furcht. Die Lügen. Wie er das macht? "Ich mach's einfach."