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Rückläufige Anmeldezahlen werden an Haupt- und Werkrealschulen zur Existenzfrage.

Stuttgart - Die neusten Prognosezahlen für die Hauptschulen bestätigen alle Vermutungen: Es gibt so gut wie keine Schüler und Eltern mehr, die diese Schulart wollen. Daran ändert auch deren Erweiterung um einen Werkrealschulzug nichts. Bei neun Stuttgarter Schulen zeigt sich das besonders deutlich. Sie haben bisher für das Schuljahr 2012/2013 keine einzige Anmeldung für eine fünfte Klasse. Betroffen sind folgende Schulen: Ameisenbergschule, Fasanenhofschule, Filderschule, Mönchfeldschule, Österfeldschule, Raitelsbergschule, Reisachschule, GWRS Stammheim und Steinbachschule.

Dort wirkt sich nun aus, was die Bildungspolitik des Landes verursacht hat. Durch den Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung haben Eltern die Wahlfreiheit. Sie können entscheiden, wohin der Bildungsweg ihrer Sprösslinge nach der vierten Klasse führen soll. Und wie Zahlen zeigen, schickt kaum noch einer seine Kinder auf die Haupt- oder Werkrealschule.

Lieber aufs Gymnasium als auf die Realschule

Das Schulamt bestätigte auf Antrag der SPD-Fraktion im Schulbeirat am Dienstag: Wer früher nach der Grundschule auf die Realschule wechselte, geht nun lieber aufs Gymnasium. Trotz deutlichweniger Viertklässlern stieg die Zahl von 2048 auf 2205 Gymnasiasten (plus 4,3 Prozent). Mögliche Hauptschüler wählen nun eher die Realschule; dort gibt es im nächsten Schuljahr einen Zuwachs von 1064 auf 1086 Schüler.

„Der Wegfall der Grundschulempfehlung hat in Stuttgart zu einer Halbierung der Anmeldungen in Haupt- und Werkrealschulen geführt“, sagt Ulrike Brittinger, Leiterin des Staatlichen Schulamts. Tendenz: weiter sinkend. Die Haupt- und Werkrealschule scheint damit ein Auslaufmodell. „Im Prinzip ist diese Entwicklung ja nicht neu“, weiß Ulrike Brittinger, „der Niedergang der Hauptschule wurde durch den Wegfall der Grundschulempfehlung nur beschleunigt.“

Schüler, die in Wohnortnähe keine Schule mehr finden werden, müssen sich auf einen längeren Schulweg einstellen. Und in der jeweiligen Schule müssen sie sich gegebenenfalls auf einen Unterricht in Kombiklassen gefasst machen. Bedeutet: Fünft- und Sechstklässler werden gemeinsam unterrichtet. Bei den Eltern löse dies allerdings große „Verwirrung“ aus. „Die Verunsicherung ist greifbar“, berichtet Stadtrat Fred-Jürgen Stradinger (CDU).

„Diese Schulart will niemand mehr“

Diese Sorgen versuchte Schulamts-Chefin Brittinger zu entkräften. Einerseits gebe es für betroffene Eltern ausführliche Beratungsgespräche. Andererseits werde die Kombilösung nicht in allen Fächern praktiziert: „Die Hauptfächer sollen auch weiterhin getrennt unterrichtet werden.“ Das Staatliche Schulamt schlägt die Kombilösung unter anderem für die Lerchenrainschule im Süden und die Eichendorffschule in Bad Cannstatt vor.

Im Süden und in Bad Cannstatt hoffen beide Schulleiter noch darauf, dass sich wenigstens eine fünfte Klasse einrichten lässt. „Wir hatten anfangs nur acht, jetzt elf Anmeldungen“, sagt Rektorin Dorothea Grübel von der Lerchenrainschule. Klar sei aber, dass in den Kernfächern getrennt werde, während sich Musik, Sport oder Hauswirtschaft „gemischt unterrichten lässt“. Auch Rektor Matthias Bolay hält jahrgangsübergreifenden Unterricht nur in AGs oder bei Projektarbeiten für möglich und für das soziale Lernen für sinnvoll, „in Mathe wäre das eher schwierig“. Zurzeit hat er 14 Anmeldungen, zur Klassenbildung gibt das Kultusministerium eine Mindestzahl von 16 Schülern vor.

„Phase des Übergangs ins zweigliedrige Schulsystem“

Stradinger will das nahende Ende des dreigliedrigen Schulsystems zwar noch nicht wahrhaben, aber auch er muss akzeptieren, was Renate Schlüter, die Geschäftsführerin der Grund- und Hauptschulen, ausspricht: „Diese Schulart will niemand mehr, hier geht es vor allem um das Ansehen.“ Das Image und Prestige der früheren Volksschule ist in der Bewertung der Schüler, Eltern und der Arbeitgeber stark gesunken. „Darauf müssen wir reagieren“, fordert Renate Schlüter. Schulbürgermeisterin Susanne Eisenmann bestätigt: „Die Rückgänge werden immer dramatischer, daher werden wir im September entscheiden, wie wir mit jedem einzelnen Standort umgehen.“ Im Klartext: Nach den Sommerferien wird entschieden, ob alle neun Schulen schließen müssen oder nur ein Teil davon. Stradinger ahnt: „Aufgrund der dramatischen Einbrüche werden wir mit unseren Entscheidungen nicht nur Freude auslösen.“

Stadtrat Vittorio Lazaridis (Grüne) sucht für die „Phase des Übergangs ins zweigliedrige Schulsystem“ nach Lösungen. Dazu zählt auch die verantwortungsvolle Fortschreibung des Schulentwicklungsplans bis 2020. „Wir müssen schauen, dass wir für diese Zeit Campuslösungen und Verbundlösungen finden“, sagt Lazaridis und lenkt den Blick gleichzeitig auf die Lehrer jenes Schultyps: „Klar ist, dass die Lehrer an den Haupt- und Werkrealschulen einen sehr guten Job machen. Wir werden sie und ihren Erfahrungsschatz in Zukunft brauchen.“

Am Ende blieb den Stadträten im Schulbeirat ein Rest von Unbehagen, das Marita Gröger (SPD) treffend zum Ausdruck gebracht hat: „Vielleicht waren wir in der Vergangenheit einfach nicht mutig genug.“