Jim Clark in seinem Werkslotus beim Abschlusstraining auf dem Solitude-Ring. Der zweifache Weltmeister war dort 1964 der letzte Formel-1-Sieger. 1965 fand nur noch ein Formel-2-Rennen statt, danach wurde der Rennbetrieb eingestellt. Foto: dpa

Die Solitude-Rennstrecke galt als eine der schwierigsten und hat die Stars der Branche angezogen. Ein Blick zurück auf eine Sternstunde des Sports.

Stuttgart/Leonberg - Die Stallorder ist klar. Ferry Porsche, der Chef persönlich, hat sie an seine vier Fahrer ausgegeben: Derjenige, der die Konkurrenz niederkämpft, darf am Ende nicht mehr von den eigenen Kollegen angegriffen werden. Der Sieg soll seiner sein. Eine Ansage, die an diesem 22. Juli anno 1956 auf dem legendären Solitude-Ring allerdings nicht bei allen Gehör findet. Zwei Runden sind noch zu fahren. Der Lokalmatador Hans Herrmann führt auf seinem Porsche RS bejubelt von Hundertausenden am Streckenrand das Fahrerfeld an, als er plötzlich in der Glemseckkurve kurz nach Start und Ziel von seinem Teamkollegen, dem Kölner Wolfgang Graf Berghe von Trips, angegangen wird. „Ich bin auf dem Gas geblieben. Auch auf die Gefahr hin, dass wir beide aus der Kurve fliegen“, erinnert sich der mittlerweile 90-Jährige an sein erstes Rennen auf dem legendären Rundkurs.

Herrmann wehrt den Angriff ab und fährt kurze Zeit später als Sieger über den Zielstrich. „Das war nicht fair. Der Graf war eigentlich immer ein Gentleman“, sagt Hans Herrmann. Nach der Siegerehrung herrscht zwischen den beiden Rennfahrern erst einmal Funkstille. Aber nicht lange. „Wir haben dann schon wieder miteinander gesprochen“, erinnert sich der Senior, der einer der erfolgreichsten deutschen Rennfahrer der Nachkriegsgeschichte war – ja sogar der bekannteste Rennfahrer bis irgendwann einmal der Name Stefan Bellof auftauchte und später ein Michael Schumacher kam.

„Wir hatten halt ein Helmle auf dem Kopf“

Vier Jahre später, am 24. Juli 1960, sind es erneut die beiden, die den Sieg unter sich ausmachen – diesmal mit dem besseren Ende für Graf Berghe von Trips. Er ist mittlerweile auf einem Ferrari unterwegs, Herrmann lenkt einen Formel-2-Rennwagen von Porsche mit einem 1,5-Liter-Motor und wird knapp geschlagen. „Er hatte das schnellere Auto“, sagt der gebürtige Stuttgarter, der den Konkurrenten auf der Büsnauer Geraden ziehen lassen musste.

Da half es auch nichts, dass er den 11,4 Kilometer langen Rundkurs kannte und beherrschte wie kaum ein anderer. „Die Solitude war eine ganz schwierige Strecke“, sagt die Rennfahrerlegende. Vor allem der drei Kilometer lange Abschnitt, der sich durchs Mahdental schlängelte, habe es in sich gehabt. Die Kurven dort hätten zwar alle gleich ausgesehen, aber jede hatte einen anderen Radius. „Wer das wusste, konnte früher Gas geben. Wer nicht, hat etliche Sekunden verloren“, sagt Hans Herrmann. Andere besondere Merkmale waren die 2,3 Kilometer lange Hochgeschwindigkeitsgerade zwischen Steinbachsee und Schatten, auf der die kaum geschützten Fahrer (Herrmann: „Wir hatten halt ein Helmle auf dem Kopf“) bis zu 290 Stundenkilometer schnell waren, und die Schatten-S-Kurven. Insgesamt hatte der anspruchsvolle Kurs 26 Links- und 19 Rechtskurven. Wer sich hier einmal durchsetzte, brauchte sich um den Respekt seiner Konkurrenten nicht mehr bemühen. Gekommen sind sie denn auch alle gern, die Stars der Branche: Jack Brabham, dreifacher Weltmeister, Jim Clark und Graham Hill, die je zweimal Weltmeister wurden, Stirling Moos, vierfacher Vizeweltmeister, oder eben der legendäre Graf Berghe von Trips, der am 10. September 1961 in Monza tödlich verunglückte. Der Grand Prix von Italien hätte ihm den ersten WM-Titel bringen sollen. Der damals 33-Jährige war einer von 25 Rennfahrern, die allein in den 60er Jahren ihr Leben auf der Straße ließen.

Die Strecke verzieh keine Fehler

Hans Herrmann hat die Strecke vor den Toren Stuttgarts geliebt – obwohl sie keinen Fehler verzieh. Gewonnen hat er das Rennen allerdings nur bei seinem Premierenstart. 1961, als das erste von vier nicht zur Weltmeisterschaft zählende Formel-1-Rennen dort stattfand, musste er sich mit dem sechsten Platz zufrieden geben. Joakim Bonnier und Dan Gurney, die wie er dem Porsche-Werksteam angehörten, belegten hinter dem Lotus-Sieger Innes Ireland die Plätze zwei und drei. Noch schlechter lief’s für den Schwaben 1963. Mit seinem Abarth-Simca 1300 erreichte er nicht einmal das Ziel. Warum er ausgefallen ist, daran erinnert er sich heute nicht mehr. „Die Abarth-Autos waren unzuverlässig“, sagt er. Und die italienischen Mechaniker auch. Einmal sei er schon in der dritten Runde liegen geblieben, weil man vergessen hatte, das Auto aufzutanken, einmal fiel er aus, weil er ein Rad verlor. „Auf der Solitude war das aber nicht“, sagt der gelernte Konditor und lacht.

1965, am 18. Juli, stand Herrmann dann ein fünftes und letztes Mal an der Startlinie seiner Hausstrecke – und erreichte als Neunter in einem Lotus das Ziel. 200 000 Fans ließen sich damals anlocken. Mit diesem Formel-2-Rennen und zahlreichen Motorradläufen verabschiedete sich der internationale Motorsport aus dem Stuttgarter Wildpark, der bereits 1903 mit einem Bergsprint für Motorräder vom Stuttgarter Westbahnhof hinauf zum Schloss Solitude seinen Anfang genommen hatte. Der Kurs galt nun als zu gefährlich. Die scharfen Kurven, die Nähe zu den Zuschauern, die so nah standen, dass man sie vom Rennauto aus hätte berühren können, und die fehlenden Sicherheitszonen machten das Rennvergnügen zu riskant.

Die Rennen sind stets ein Zuschauermagnet gewesen

In all den Jahren zuvor war der Solitude-Rennstrecke, die zunächst vor allem für Motorradrennen genutzt wurde, aber stets ein Zuschauermagnet gewesen. 1954 sollen bei einem Motorradrennen 435 000 Zuschauer die Piste gesäumt haben. Einmal sollen sogar 76 Sonderzüge an einem Rennwochenende am Hauptbahnhof eingefahren sein. Stuttgart im Ausnahmezustand. „Vermutlich haben immer die wenigsten Besucher Eintritt gezahlt. Die meisten sind durch den Wald gepilgert und haben sich in den Baumwipfeln die besten Plätze gesichert“, sagt Hans Herrmann. Viele hatten sich schon in der Morgendämmerung auf den Weg gemacht und teils in Zelten oder auf selbst gezimmerten Tribünen bei lauter Elvis-Presley-Musik stundenlang auf den Start gewartet. Und die nahe gelegene Autobahn war nicht nur einmal kurzerhand zum Parkplatz umfunktioniert worden. „Heulende Motoren, quietschende Reifen, Benzin- und Gummigeruch, strahlende Sieger, begeisterte Zuschauer“ – so hat das Blatt „Weltmotormeister“ 1963 die Atmosphäre an der Solitude-Rennstrecke beschrieben. Keine Frage: sie hat ihren Nimbus bis heute bewahrt und deshalb gebührt ihr ganz besonders das Prädikat „unvergesslich“.