Stuttgart-Kritiker Claus Peymann Foto: SWR

Stuttgart ist das Gegenteil von „menschfeindlich“, findet Lokalchef Jan Sellner. Der ideale Ort für den ewigen Theaterrebellen Claus Peymann.

Stuttgart - Claus Peymann leidet an Stuttgart. Das hat er vor einigen Tagen in einem Interview mit unserer Zeitung zum Ausdruck gebracht, als er Stuttgart eine „beschädigte und menschenfeindliche Stadt“ nannte – maßgeblich wegen Stuttgart 21 und der vielen Löcher, die das Projekt in den Stadtboden reißt. Daran schloss sich ein Schlagabtausch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann an, das der Theatermann auf eine Vorlage Kretschmanns hin ebenso trefflich inszenierte, wie Shakespeares König Lear, der derzeit im Stuttgarter Schauspielhause, der alten Spielstätte Peymanns, zu sehen ist.

Mit seinem Stuttgart-Leiden steht Peymann nicht alleine. Von dem Schriftsteller Peter Härtling beispielsweise ist der Satz überliefert, Stuttgart sei „eine Provinzstadt, die ab und zu mal mehr ist, das hängt wohl immer von den Leuten ab, die gerade da sind. Allerdings besteht die Neigung, dass Leute, die da sind, niedergebügelt werden. Was gibt’s noch? Stäffele.“ Klar, sonst nichts. So einfach ist manchmal die intellektuelle Welt.

Peymann legt eine Schablone über die Stadt

Aber natürlich hat Peymann Recht. Stuttgart ist beschädigt – beschädigt vor allem durch den Krieg, beschädigt und beschnitten durch die beim Wiederaufbau eingezogenen Stadtautobahnen, beeinträchtigt und beansprucht durch jahrelange Großbaustellen. Gezeichnet von Zerwürfnissen in der Bürgergesellschaft. Das alles kann man diagnostizieren und noch vieles andere Negative mehr – etwa die Wohnungssituation. Und doch ist Peymanns Stuttgart-Bashing höchst ungerecht. Er legt einfach nur eine Schablone über die Stadt und blickt auf sie herunter. Das Ergebnis ist Provokation, ein Stilmittel, das der Theaterrebell seit jeher einsetzt. In dem Fall operiert er mit Pauschalurteilen. Dadurch dass Peymann sie ausspricht, ehrhalten sie einen intellektuellen Anstrich. Das erinnert an des Kaisers neue Kleider. Der eine hatte nichts an und der andere nichts zu sagen.

Wer Stuttgart als „menschenfeindlich“ bezeichnet, hat einen ideologischen Blick auf die Stadt, der von der Lebenswirklichkeit ungetrübt ist. Peymanns Stuttgart-Bild wird beherrscht von übermächtigen Autokonzernen und willfährigen Grünen-Politikern, die durch die Stadt irrlichtern. Um wie viel präziser war da Goethe, der einst feststellte: „Stuttgart hat eigentlich drei Regionen und Charaktere; unten sieht es einer Landstadt, in der Mitte einer Handelsstadt und oben einer Hof- und wohlhabenden Partikülierstadt ähnlich.“ In der Tat weist Stuttgart mehrere Charaktere auf, die sich topografisch zuordnen lassen. Man kann auch von verschiedenen Schichten sprechen, die zwischen Halbhöhe und Kessel angesiedelt sind. Auch wenn sie viel zu selten miteinander in Berührung kommen, tragen viele Engagierte aus allen Bereichen zur Qualität Stuttgarts als menschenfreundliche Stadt bei. Fremdenfreundlichkeit mit eingeschlossen.

Stuttgart ist an vielen Stellen authentisch

Überhaupt wirkt in dieser Stadt bemerkenswert vieles intakt: der Arbeitsmarkt, die sozialen Angebote, die Kulturlandschaft, das Ehrenamt, das Vereinsleben und das Leben in den Stadtquartieren. Besonders das. Ob Stuttgart viel schöner ist als dieser oder jener Ort, ist nicht die Frage, sondern, ob es authentisch ist. Und das ist in an vielen Stellen der Fall. Die äußerlich enge Stadt hat Tiefe. Stuttgart bringt in beachtlicher Zahl Kreative, Querdenker und Dickschädel hervor, und Menschen, die ins Theater strömen. Das bestgehütete Geheimnis der Stadt ist ohnehin ihre spezielle, unverwüstliche Liberalität. Peymann hat Glück. Er ist am richtigen Platz.

jan.sellner@stzn.de