Klassik neu zu präsentieren, ist das Ziel des Podium-Festivals Esslingen – hier 2017 bei dem Stück „Grenzgänger“. Foto: Ines Rudel

Die Anzahl vernetzter Geräte verdoppelt sich in jedem Jahr. 2020 wird es etwa 6,1 Milliarden Smartphones geben. Wie reagieren die Künste, speziell die Veranstalter klassischer Musik, auf die rasante Entwicklung des Digitalen? Eindrücke vom ersten „Innovationskongress“ des Stuttgarter Kulturamts.

Stuttgart - Machen wir Denkmalschutz, oder machen wir Kunst? Als Steven Walter im Planetarium Stuttgart an das Rednerpult tritt, trifft seine Frage – endlich! – mitten ins Herz einer Veranstaltung, die sich mit der Zukunft der klassischen Musik in unserer medial überfluteten und sich zunehmend digitalisierenden Zeit beschäftigt. „Wir laden nicht nur Ensembles ein und stellen Notenständer auf“, sagt der Cellist, Kulturmanager und künstlerische Leiter des Podium-Festivals Esslingen. Weil dort zwei Wochen im Jahr junge Musiker mit neuen Präsentationsformen und Vermittlungsideen experimentieren, hat das Festival für seine Innovationskraft schon etliche Preise erhalten – und warum das so ist, verstanden bei Walters Impulsvortrag sehr schnell die zahlreichen (vor allem Fach-)Besucher, die am Samstag zum ersten Innovationskongress des Stuttgarter Kulturamts mit dem Thema „Zukunftslabor Musik“ ins Planetarium gekommen waren.

Um bloße Reproduktion des Alten, sagte Steven Walter, könne und dürfe es heute nicht mehr gehen – zumindest nicht mit Blick auf ein neues, jüngeres Publikum der Zukunft. Im übrigen mache man nicht Kultur, sondern Kunst, und der müsse es, ganz besonders im „Zeitalter der Verfügbarkeit“, immer um Einzigartiges, Überraschendes und um Entdeckungen gehen. „Wir sind nicht nur Coverbands des 19. Jahrhunderts“, beschrieb Walter seine Sicht auf die Situation von Musikern – und die Veranstalter müssten sich unbedingt fragen, in welche Kontexte sie Musik stellen.

Das Netzwerk ist der Held

Stillsitzen, hat der gerade 30-Jährige schon mal gesagt, mache die Musik kaputt. Jetzt wagt er sich noch weiter vor: „Musik als absolute Kunstform gibt es nicht“ – deshalb müsse man interdisziplinäre, experimentelle Plattformen schaffen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und deren Schlüsselfunktion eine hohe Medienkompetenz sei. „Post-heroisch“ müsse dabei das Management sein. „Das Netzwerk ist der Held“, formuliert es Walter. Sprich: Ein Veranstalter müsse sein „wie eine Maschine – die Ideen kommen aus der Gemeinschaft, nicht vom künstlerischen Leiter“, und das bedeute notwendig auch, dass man stets flexibel auf neue Ideen reagieren müsse, statt an vorgefertigten Plänen festzuhalten. Unter diesen Umständen könne sogar eine Musikinstitution zum „sozialen Hotspot“ werden.

Der Vortrag von Steven Walter erhielt den längsten und lautesten Beifall des Tages – mit gutem Grund, schließlich brachte der junge Esslinger Festivalchef ganz praktisch auf den Punkt, was die meisten Beiträge zuvor eher theoretisch umkreist hatten. Alexander Mankowsky, Zukunftsforscher bei der Daimler AG, beleuchtete die Geschichte des Verhältnisses von Mensch und Maschine und bezeichnete als hervorragende Aufgabe von Kunst die Vermittlung zwischen beiden Polen – als Katalysator, der innovative Prozesse anrege. Björn Gottstein, seit 2015 künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage, filterte aus den drei grundsätzliche Möglichkeiten, wie Kunst auf Technik reagieren könne, die der Subversion heraus: Die Aufgabe von Kunst sei nicht die Innovation, sondern die Funktion eines Korrektivs der Technik.

Nutzen und Zweck künstlicher Intelligenz

Matthias Krebs, Leiter der „Forschungsstelle Appmusik“ an der Berliner Universität der Künste, griff aus den zurzeit gut 50 000 verfügbaren Musik-Apps einige heraus, mit deren Hilfe man alleine oder in einer vernetzten Gruppe Musik machen kann. Dass die Komplexität dabei reduziert sei, habe den Vorteil großer Barrierefreiheit und Partizipation: „Wir sind nicht mehr weit davon entfernt, dass Musikmachen zu einem Massenphänomen wird.“ Wie leicht es heute Computerprogrammen fällt, selbst komplexe historische Stile zu kopieren, belegte der Geschäftsführer des Salzburger Karajan-Instituts, Matthias Röder – und belegte plausibel die Möglichkeiten einer derart geschulten künstlichen Intelligenz für intelligente Musikinstrumente und eine individualisierte Musikermedizin.

Die Stuttgarter Philharmoniker untersuchen auf Anregung des Kulturamts seit 2017 in einem intensiven „Zukunftsprozess“ ihr Programm, ihre Konzertformate, ihr Selbstbild und ihre Vermarktung – und haben, wie der geschäftsführende Intendant Tilman Dost berichtete, in der Zusammenarbeit mit Studenten sehr viel positives Feedback bekommen. Nach Konzertbesuchen und einer Teilnahme an neuen „Post Concert Talks“ mit dem Dirigenten beschrieben einige von ihnen die herkömmliche Präsentationsform des Konzerts sogar als wohltuenden Rückzug aus der digitalen Reizüberflutung. „Wir sind“, so Dost, „ein analoges Orchester und wollen die digitalen Medien nutzen, um das nach außen zu tragen.“ Als Vertreter eines per se mit der Vernetzung unterschiedlichster Gewerke arbeitenden Hauses stellte später Thomas Koch, Kommunikationschef der Oper Stuttgart, die Kooperation der Institutionen ins Zentrum seiner Zukunftsvisionen.

Das Konzerthaus der Zukunft und der gesellschaftliche Wandel

Bleibt zuletzt: der Raum. Für neue Konzertformate, kreative Erweiterungen und Technologien des 21. Jahrhunderts seien die Konzertsäle des 19. Jahrhunderts nicht ausgelegt, sagte Christian Lorenz, künstlerischer Geschäftsführer der Beethoven Jubiläums Gesellschaft. Für das Projekt eines – lange schon überfälligen – neues Konzerthauses in Stuttgart nannte Felix Fischer, Orchestermanager des SWR-Symphonieorchesters, als wichtigste Kriterien eine hervorragende Akustik und technische Ausstattung, einen zentralen Standort, außergewöhnliche Architektur – und einen „täglichen Zusatznutzen für eine heterogene Gesellschaft im Wandel“. Gebaut werden müsse ein Wahrzeichen der Stadt, das aufgrund seiner Attraktivität Nachfrage schaffe und ein Symbol des Hochwertigen sei.

Es ist ein langer, voller Tag im Planetarium gewesen: ein Tag voller Ideen, voller Utopien, auch voller Gegensätze. Die Idee des Kulturamts unter seiner umtriebigen Leiterin Birgit Schneider-Bönninger, den von Zukunftsforschern bisher kaum berücksichtigten Bereich der Kultur auf seine Zukunftsfähigkeit zu untersuchen, hat sich dabei selbst als ungemein zukunftsträchtig erwiesen. Das Feld ist ungemein weit, und es gibt viel zu tun. Um auf Steven Walter zurückzukommen, könnte man positiv formulieren: Ja, es gibt eine Zukunft der klassischen Musik; sie geht Hand in Hand mit ihrer medialen Vernetzung, begibt sich in den Dialog mit anderen Künsten, begegnet dem Publikum auf Augenhöhe und speist sich als eine Art „Wikimusic“ aus den Ideen und dem Wissen einer Gemeinschaft. Aber ja doch, sagt Walter, Zukunft ist vorhersehbar. Ganz einfach: „indem man sie gestaltet“.