Alltag und Filmpropaganda im Zweiten Weltkrieg: Vor großem Publikum im Stadtarchiv ging es um die Macht geschönter Bilder. In unserem Filmprojekt kontrastieren wir sie mit historischem Faktenwissen.
Das Publikumsinteresse an der neuen Geschichtsserie unserer Zeitung „Stuttgart im Zweiten Weltkrieg – Alltag und Filmpropaganda“ ist groß. Das spiegelt sich in Zuschriften von Leserinnen und Lesern wider und zeigte sich am Mittwochabend eindrücklich auch bei der gemeinsamen Auftaktveranstaltung mit dem Stadtarchiv Stuttgart an dessen Sitz im Bellingweg 21 in Bad Cannstatt. Mehr als 120 Geschichtsinteressierte verfolgten die Einführung und Präsentation von Ausschnitten aus der zwischen 1941 und 1944 entstandenen sogenannten Stuttgarter Kriegsfilmchronik, die die Grundlage für das 14-teilige gemeinsame Film- und Videoprojekt bildet.
Zu den Gästen zählte auch Fabian Mayer, Erster Bürgermeister der Stadt Stuttgart. In einem Grußwort stellte er die Zusammenarbeit des Stadtarchivs mit der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten heraus, aus der zuvor bereits das viel beachtete Fotoprojekt Stuttgart 1942 hervorgegangen war. Bei dem neuen Projekt sei es gelungen, „ein gutes Format zu finden, um das Filmmaterial in einen geschichtlichen Bezugsrahmen zu setzen, der eine kritische Reflexion ermöglicht und die filmische Propaganda als das demaskiert, was es ist: ein kulturelles Instrument zur Kriegsführung“.
Urheber der 58 Filme, aus denen nach dem erhofften „Endsieg“ ein großer Werbefilm über die Leistungen der Stuttgarter Stadtverwaltung entstehen sollte, war der Filmemacher Jean Lommen (1892–1974). Das in dieser Fülle bundesweit einmalige Archivmaterial war im Stadtarchiv bisher schon zugänglich, wird nun aber erstmals in kommentierter Form veröffentlicht. Carsten Groß, Geschäftsführer der Medienholding Süd (MHS), nannte das Geschichtsprojekt in seinem Grußwort, „ein Herzensanliegen“. Die journalistische Verantwortung liege darin, die Bilder nicht einfach laufen zu lassen, sondern ihren Kontext herauszuarbeiten: „Wir hinterfragen sie und zeigen die Absicht dahinter.“
Mayer betonte seinerseits, die Filme seien in zweifacher Hinsicht von historischem Wert: „Zum einen geben sie uns Einblicke in die Arbeit der Stadtverwaltung und den Alltag einer Großstadt während des Zweiten Weltkriegs.“ Gleichzeitig sei ihnen die nationalsozialistische Propaganda eingeschrieben, „was sie zu einem bedeutsamen Desiderat von Forschung, Vermittlung und Aufklärung machen“. Der Erste Bürgermeister betonte auch: „Uns als Stadt ist es sehr wichtig, die Verstrickung der eigenen Verwaltung in das NS-Unrechtsregime transparent aufzuarbeiten.“ Dem dienten unter anderem zwei vom Stadtarchiv vergebene Promotionsstipendien. Untersucht werde auch die Rolle der Stadtverwaltung bei der sogenannten Arisierung.
Bewegte Bilder eignen sich besonders gut für Manipulation
In einer von Redakteur Jan Sellner moderierten Podiumsrunde unterstrich die Stadtarchiv-Leiterin Katharina Ernst den Charakter des gemeinsamen Projekts: „Wir haben lange nach einer Möglichkeit gesucht, wie wir dieses Filmmaterial mit dem notwendigen Kontext und ergänzenden Quellen präsentieren.“ Mit den Zeitungen habe man einen guten Weg gefunden.
Felix Frey, Videoredakteur unserer Redaktion, der die Filme geschnitten und darin Interviews mit den Experten des Stadtarchivs integriert hat, berichtete davon, wie er selbst von der Wirkung der Bilder, die oft eine vermeintliche heile Welt transportieren, immer wieder überrascht worden ist: „Film ist das emotionalste Medium, das wir haben.“ Das zeige sich besonders jetzt im Smartphone-Zeitalter: „Es ist auch das Medium, mit dem man Menschen am einfachsten manipulieren kann.“ Die Filme der Kriegsfilmchronik betrachtet er deshalb auch als Lehrmaterial: „Die Tatsache, wie gut Manipulation mit Bildern damals funktioniert hat, ist eine Warnung, wie es auch heute funktionieren kann.“
Ähnlich sieht das Datenjournalist Jan Georg Plavec, Mitautor der Serie: „Heute werden viele Bilder durch Künstliche Intelligenz erzeugt.“ Die Filme der Kriegsfilmchronik zeigten bereits: „Wir dürfen Bildern nicht auf den Leim gehen, sondern sollten sie kritisch betrachten und verschiedene Dimensionen mitdenken.“
Bürgermeister Mayer: „Es raubt einem die Sprache“
Die Wirkung der Schwarz-Weiß-Aufnahmen etwa von der „Sonderverkaufsstelle“ für Jüdinnen und Juden in der Seestraße, die der Historiker Michael Herzog vorstellte, ist jedenfalls erheblich, wie die Reaktionen des Publikums zeigten. Bürgermeister Mayer äußert sich betroffen: „Das inszenierte Schauspiel steht in starkem Kontrast zu dem, was sich tatsächlich ereignet hat. Es raubt einem die Sprache, wenn man in die Gesichter von Menschen blickt, die bald darauf ein unvorstellbares Schicksal ereilt.“ Etliche der im sogenannten Judenladen gezeigten Menschen wurden kurz darauf deportiert.
Zu sehen ist der Film „Judenladen“ von Freitagnachmittag an in unserem digitalen Angebot. Die Diskussion mit unseren Leserinnen und Lesern setzen wir am Freitag, 11. April, 14.30 Uhr, bei einer Folgeveranstaltung im Stadtarchiv fort.
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