Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann stellte sich den Fragen des Journalisten Peter Unfried (l.). Foto: Georg Friedel

Ministerpräsident Winfried Kretschmann war am Montag auf Einladung der Stuttgarter Grünen zu Gast im Freien Musikzentrum auf dem Roser-Areal in Feuerbach zu Gast. Der grüne Landeschef forderte mehr Mut und Initiative bei der Gestaltung der Zukunft: „Wir müssen uns wieder große Ziele setzen, daran mangelt es.“

Feuerbach - In dunklem Anzug, weißem Hemd und grün gemusterter Krawatte steigt der baden-württembergische Ministerpräsident am Montagabend auf die Bühne des Festsaales und nimmt in dem rechten der beiden Ledersessel Platz. Links neben ihn setzt sich taz-Chefreporter Peter Unfried, der die Veranstaltung moderiert.

Zuvor hatte Anna Christmann, die Grünen-Bundestagskandidatin für den Wahlkreis II in Stuttgart, den rund 100 Zuhörern im Freien Musikzentrum Stuttgart einen spannenderen Abend als das sonntägliche TV-Duell zwischen Kanzlerin Angela Merkel und SPD-Herausforderer Martin Schulz versprochen. Themen wie Ökologie, Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Digitalisierung seien in der Debatte nicht zur Sprache gekommen, sagte die in Zuffenhausen wohnende Kandidatin. Christmann sieht dieses Versäumnis als Chance für grüne Politik: Platz 3 wolle man bei der kommenden Bundestagswahl erobern.

Große Ziele und Visionen

Das TV-Duell am Sonntag habe er nicht verfolgt, sagte Kretschmann gleich zu Beginn. Moderator Unfried fragte ihn trotzdem danach: Die meisten seien von dem Schlagabtausch enttäuscht gewesen, weil gar kein Streit aufkommen wollte, meinte der Journalist und Autor. „Das wundert mich schon“, sagte Kretschmann. Schließlich gebe es einen Haufen Probleme – vom Klimawandel über den Terrorismus bis hin zu den Flüchtlingsproblemen, die nicht kleiner werden. Es gebe daher genügend Stoff und Themen für ein Streitgespräch. Warum kommt der Wahlkampf dennoch so schwer in Gang? Kretschmanns Antwort: „Die Leute wollen auch mal Urlaub machen.“ Er sei ohnehin ein „Anhänger von kurzen, knackigen Wahlkämpfen“.

Grundsätzlich forderte der grüne Landeschef mehr Mut und Initiative bei der Gestaltung der Zukunft: „Wir müssen uns wieder große Ziele setzen, daran mangelt es.“ Er gehöre eben nicht zu denjenigen, die sagen: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, sagte Kretschmann, fügte aber auch hinzu, dass er den 2015 verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt sehr schätze. Allerdings brauche die Politik ebenso wie die Gesellschaft Visionen: „Wir sind eine Ingenieursnation. Gehen wir mutig voran und schalten die 20 dreckigsten Kohlekraftwerke ab.“ Diese Anlagen würden vergleichsweise so viele Schadstoffe in die Luft blasen wie 37 Millionen Pkws. Die Grünen wollen daher „aus der Kohle raus“, so Kretschmann, „und rein in die regenerativen Energien“. Das sei ökologisch wie ökonomisch der richtige Weg: „Was wir vorschlagen, dient auch dem Wohlstand und der Prosperität.“ Im übrigen sieht Kretschmann durch den Klimawandel riesengroße Herausforderungen auf die Menschheit zukommen.

Klimawandel und Flüchtlingsströme

Die Flüchtlingskrise habe man hierzulande „gut gemanagt“, auch dank der vielen ehrenamtlichen Helfer. Aber wenn der Klimawandel so weitergehe, werde es weitere größere Flüchtlingsströme geben. Wenn es nun sogar in Grönland brenne, „dann geht das an die Lebensgrundlagen, das ist nichts Abstraktes, der Klimawandel“, betonte der Ministerpräsident. Auch zum Thema Abgasskandal äußerte er sich: Laut einer aktuellen Studie seien neun von zehn Euro-6-Diesel auf der Straße zu schmutzig. „Da fällt mir echt nix mehr ein“, sagte er. Wobei die Grenzwertüberschreitungen nicht einmal illegal seien, da erst seit September für Neuzulassungen die Abgasnorm auch für den Ausstoß auf der Straße maßgeblich ist. Kritik übte er an Verkehrsminister Alexander Dobrindt: „Mit den Grünen wäre das nicht passiert.“ Zwei Dieselgipfel habe er erlebt, die „hundsmiserabel“ vorbereitet gewesen seien. „Es kann nur funktionieren, wenn alle die Karten offenlegen“, sagte Kretschmann mit Blick auf die Automobilwirtschaft.

Allein bei Bosch würden hierzulande 15 000 Arbeitsplätze an der Dieseltechnologie hängen: „Wir müssen die Luft besser machen und darauf achten, dass die Wirtschaft in diesem Bereich nicht den Bach runtergeht.“ Ohne Kontrolle der Autoindustrie werde dies nicht funktionieren: „Ich finde Vertrauen ist besser als Kontrolle, aber ohne Kontrolle gibt es kein Vertrauen.“

Dienstlich fahre er einen Plug-in Hybrid, sagte Kretschmann. Gleichzeitig räumte er bei der munteren Talkrunde ein, dass er privat einen Diesel fahre. Seinen Wohnwagen, den er schon viele Jahre besitze, habe er neulich nocheinmal durch den TÜV bekommen, berichtete Kretschmann. Ein Elektroauto sei sicherlich besser, „aber ich finde sicher kein Elektromobil, das meinen Wohnwagen auf die Insel Reichenau zieht“, sagte er. Im übrigen sei neuste Diesel-Generation sauber – „auch im Realbetrieb“.

Sorgen bereitet Kretschmann der Artenrückgang hierzulande – nicht nur bei den Fluginsekten sei dieser dramatisch, sondern auch bei Vogelarten: „Rebhühner sind fast ausgestorben.“ Bei den Grünen sei das „ ein Thema ersten Ranges“. Am Ende der fast zweistündigen Gesprächsrunde beantwortete der Ministerpräsident schriftlich eingereichte Fragen aus dem Publikum. Danach wartete auf ihn bereits der nächste Termin, in Bad Cannstatt: „Ich gehe ins Stadion zum Fußballländerspiel“, teilte er im Gehen mit.