Szene aus „La Philosophie dans le Boudoir“ Foto: Sigmund

Eclat heißt das Festival für Neue Musik in Stuttgart, das in diesem Jahr im Theaterhaus viele Blicke nach vorne bietet, gleichzeitig aber auch an Vergangenes erinnert.

Stuttgart – Heimat ist, wo die Erinnerung wohnt, das Herz, das Gefühl. So gesehen, muss sich der gemeine Zuhörer der Neuen Musik häufig unbehaust fühlen: Gemeinsam mit Komponisten, die immer auf der Suche sind nach neuen Orten, an denen möglichst noch niemand war, ist sein Geist dauerwach, sein Seelenleben aber ein wenig ungepflegt. Deshalb mag beide manchmal eine heimliche Sehnsucht umtreiben: nach ungetrübter Schönheit und nach dem Glück der Wiederbegegnung mit schon einmal Gehörtem. Wohin diese führen kann, haben mehrere Werke des diesjährigen Eclat-Festivals gezeigt – und manch indirekte Bestätigung durch Stücke erhalten, die andere Wege gingen.

 

Kabinett der Idee

In Oscar Bianchis „Partendo“ für Countertenor (Daniel Gloger) und Ensemble (Uusinta Ensemble Helsinki) greifen instrumentale und vokale Gesten ineinander, und mithilfe von umspielten Zitaten der Komponisten Palestrina und Purcell entsteht ein schillerndes Spiegelkabinett von Idee und Reflexion. Derart intelligent klingt anderes nicht. Zu den Komponisten, die heute bewusst auf vorhandenes musikalisches Material zurückgreifen, zählt der Norweger Lars Petter Hagen: Sein Ensemblestück „Harmonium Repertoire“ besteht ausschließlich aus (sehr) langsamen Sätzen, die sich intensiv an Strauss, an Gustav Mahler und schließlich auch noch an den langsamen Satz aus Beethovens Siebenter erinnern. Das norwegische Cikada Ensemble kümmerte sich ebenso liebe- wie kunstvoll um den Trauerrand der leisen Klänge, deren Retro-Charakter die funktionsharmonische konventionelle Anlage ebenso befördert wie das nasale Summen des beteiligten Harmoniums. Marko Nikodijevic, sonst gerne effektbewusst im rhythmischen (Techno-)Puls unterwegs, hat mit „endlos die nacht“ für vier Gitarren und Live-Elektronik (Aleph-Quartett) Chopins nachgelassenes cis-Moll-Nocturne verarbeitet. Eine kleine Nachtmusik ist daraus geworden, atmosphärisch schön, ungestört poetisch, aber letztlich doch ein wenig dürftig.

Auch Beat Furrers doppelchöriges Chorwerk mit dem sprechenden Titel „Herbst“ bietet – zumindest so, wie es von dem wundervoll homogenisierten SWR-Vokalensemble unter Marcus Creeds Leitung aufgeführt wird – Fülle des Wohllauts: eine höchstens an den Rändern ein wenig angeschmutzte Post-(oder Neo-?)Romantik, Klangflächen-Wellness zum sorglosen Entspannen und Genießen, deren Entstehungsjahr (2015) man nur in wenigen Momenten der harmonischen Weitung oder der metrischen Verschiebungen ahnen kann.

Brüche und Glätten

Dass der österreichische Komponist des Jahrgangs 1954 noch nicht vollständig altersmilde geworden ist, hört man beruhigt in seinem nagelneuen Chorstück „Spazio immergente“. Dieses kommt zwar immer noch ungemein chorklangverliebt und flächig daher, aber zwischen fein gestylten dynamischen Vokalklangwellen und rhythmischem Sprechen (das, auch weil der Musik ein lateinischer Text von Lukrez zugrundeliegt und weil Schlagzeug und Klavier den Chor begleiten, immer ein wenig an Orffs „Carmina burana“ erinnert) auch wirkungsvoll etwa mit der Kreuzung von auf- und abwärts gleitenden Bewegungen arbeitet.

Das ist fein gemacht. Und es ist ein schöner Schlusspunkt nach einem Chorkonzert, das auch dem Aufführungstag (Faschingssamstag) Tribut gezollt hatte: In Ansgar Bestes „In the steppes of Sápmi“ singen die Akteure (oder blasen mit Kazoos) in vibrierende Dosen, so genannte Thunder Cubes, sodass der Klang ihrer Stimmen etwas Karrikiertes hat, wenn sie die ewigen Wiederholungen samischer Volkslieder imitieren.

Dass die Sänger diese Wiederholungen am Ende gleichsam dem Teilchenbeschleuniger überantworten, macht das Stück interessant. So wie in Eivind Buenes spannendem Ensemblestück „Possible Cities“, das zwischen Volksliedhaftem und Motorisch-Mechanistischem vagiert, oder so wie in Carola Bauckholts frechem, ins Dadaistische hineinspielendem Werk „Sog“, gilt hier: Der Bruch ist die Kunst. Oder, um Helmut Lachenmanns sehr eigene Definition zu zitieren: Schönheit ist die Verweigerung von Gewohnheit.

Musik, Theater, Musiktheater

Seit jeher untersucht das Festival Eclat auf sehr eigene Weise die Beziehungen der Kunstformen, die beim Musiktheater zusammenfließen. Der Franzose Francois Sarhan sogt in „La Philosophie dans le Boudoir“ dafür, dass Text, Musik, Aktion und tiefere Bedeutung einander nicht nur so wenig wie möglich berühren, sondern dass sie dies außerdem in drei unterschiedlichen Zusammenhängen tun.

Für das in drei Teile geteilte Publikum werden drei sehr unterschiedliche Texte auf eine große, ebenfalls vom Komponisten gefertigte Pappcollage projiziert, während darunter auf der Bühne die Neuen Vocalsolisten einander die Hände schütteln, auf die Schultern klopfen und erst in einer Art Sprechgesang, dann in schönstem, von einem Lied Gabriel Faurés gespeisten Wohlklang Worte in einer denkwürdigen Kunstsprache und am Ende auch Becher mit Wasser an den Kopf werfen.

Darüber verfolgt ein Teil des Publikums lesend den RAF-Prozess um Ulrike Meinhof, ein anderer das Vorstellungsgespräch eines Großunternehmens und der dritte Ausschnitte aus Werken des Marquis de Sade, die – gelinde gesagt – nicht jugendfrei und nicht für jeden erträglich sind.

Tischtennis mit Zapfen

Der Missachtung des Menschen, der Entpersonalisierung in allen Texten entspricht die Entindividualisierung des Bühnengeschehens. Zwar mag der auf eine einzige Perspektive beschränkte Zuschauer gelegentliche Verbindungen zwischen Projektionen und Aktion entdecken, aber der Rest ist reine Hypothese. Ein interessantes Experiment, dessen praktische Umsetzung jedoch gerade wegen der fehlenden Interaktion der Elemente im Beliebigen endet. Nach zehn von 70 Minuten hat man die Idee des klingenden Thesenpapiers verstanden

Da sorgt Manos Tsangaris mit seinem Stationendrama „Eiland (Isola)/Das aufgehobene Ich“ für mehr Belebung: Sechs Kontrabassklarinettisten und sechs der Neuen Vocalsolisten bilden sechs Klang- und Aktionsinseln, die im Raum verteilt sind; man kann unter anderen zwischen einem Bariton, der mit einer Selfiestange hantiert, einem Tenor und einer Sopranistin, die ihr Publikum beruhigen („Sie brauchen sich nicht zu konzentrieren!“, „Lassen Sie sich ruhig etwas Zeit!“) umherwandeln, sich aus dem Gesungenen und den Wiederholungsfiguren der Instrumente sein eigenes Stück zusammensetzen – und vor allem seine Zeit frei gestalten.

Ob der Wille des Komponisten, Musik wieder rekontextualisieren, also etwa das Besondere einer Live-Aufführung gegenüber einer rein reproduktiven Audio-Wiedergabe wieder hervorheben zu wollen, hier zu großer Kunst gerinnt, darf man bezweifeln. Aber es muss ja auch nicht alles große Kunst sein. Notfalls tun es sogar Pinienzapfen, die in Elena Rykovas Performance „The Mirror of Galadriel“ auf einer mit Tonabnehmern versehenen Tischtennisplatte hin- und hergeschoben werden. Das quietscht mächtig, und das Publikum ist fidel.

Mehr Infos unter www.eclat.de