Gerda Herrmann zeigt dem Stuttgarter Regisseur Alexander Tuschinski alte Fotografien und ihre Kompositionen. Foto: Petra Mostbacher-Dix

Im Delphi Arthaus Kino ist als Weltpremiere „Die Liedermacherin von Botnang“ zu sehen: Alexander Tuschinski hat Gerda Herrmann porträtiert, die seit rund 40 Jahren politische und soziale Texte schreibt und vertont.

Botnang - Was wollten, die im Dunkeln sind, in Ost und West und Süd? Nur Menschlichkeit. Dass jedes Kind zu essen hat, und jeder Bauer Land, nicht zehn zu viel.“ Sie muten höchst aktuell an, die Worte, die Gerda Herrmann da singt, sich gefühlvoll begleitend am Flügel. Dabei hat sie diese Zeilen – übertitelt „Gefangen und vergessen (Prisoners of Conscience)“ – 1972 geschrieben, für einen Gottesdienst in der Stuttgarter Friedenskirche zugunsten von Amnesty International. „Der Pfarrer hatte um einen Liedtext gebeten, den damals Wolfgang Kütterer vertonte und mit seiner Band uraufführte“, so Herrmann. Von 1968 bis 1973 engagierte sich die gebürtige Cannstatterin, die weit mehr als ein halbes Jahrhundert in Botnang lebt, selbst für Amnesty International. Sie leitete unter anderem die Gruppe 49, setzte sich für Gewissensgefangene in aller Welt ein. Das Schreiben sowie das Spiel auf dem Klavier faszinierte sie allerdings früher. Ihre Eltern kauften 1938 für 900 Mark ein Klavier – das Erbe der Großmutter väterlicherseits trug 300 Mark dazu bei. „Unsere erste Klavierstunde hatten ich und meine Schwester 1941“, erinnert sie sich. Indes sollte es bis Ende der 70er Jahre dauern, bevor sie Lieder zu schreiben begann. Drei Kinder, Alltag, Engagements galt es Tribut zu sollen. „Von 1984 bis heute entstanden etwa 360 kleine Kompositionen mit eigenen und fremden Texten“, berichtet Gerda Herrmann.

Ihr Erkerzimmer spricht denn auch kunstschaffende Bände: Noten, Bücher, Bilder rund um den Flügel. „Komponieren ist zu hoch gegriffen, ich vertone Texte“, so Herrmann bescheiden. „Musik hilft, trug mich durch schwere Zeiten. Und Sprache ist für mich enorm wichtig.“ Sie lächelt: Ende der 50er Jahre habe einer ihrer wohl formulierten Briefe die Ehe einer Freundin gerettet. Etwa 20 Jahre später sollte sie mit ihrer feministischen Moritat Aufsehen erregen.

Künstlerbiografie auf Video gebannt

Das faszinierte Alexander Tuschinski. Der Stuttgarter Regisseur bannte Gerda Herrmanns Künstlerbiografie auf Video: Einen Tag vor ihrem 88. Geburtstag hat „Die Liedermacherin von Botnang“ im Delphi Arthaus Kino Weltpremiere. Am 29. Juni läuft das Werk von 15.30 Uhr an als ein Teil von drei Dokumentar-Kurzfilmen unter dem Titel „Auf Umwegen nach Botnang“. Die anderen Teile waren schon zu sehen: „Caligari in the Desert“ 2019 bei den Oscars, „Cycle – Kreislauf“ auf dem Santa Cruz Film Festival in Kalifornien.

Im Stuttgarter Dillmann-Gymnasium lernte Tuschinski, Absolvent der Medienhochschule mit Geschichtsabschluss der Uni Stuttgart, 2008 Gerda Herrmann kennen. Wie die drei Herrmann-Kinder machte er dort Abitur – und er war in der AG Kreatives Schreiben. Eine Arbeitsgemeinschaft, aus der auf Initiative Herrmanns 2003 der Förderkreis Kreatives Schreiben und Musik e.V. hervorging. Dieser unterstützt junge Schreibende mit Veranstaltungen und Anthologien: 2001 erschien der erste Band „Wurzeln, Wege und Visionen“ – dank eines Benefizkonzertes Herrmanns 1999 im Weißen Saal des Neuen Schlosses. Das finanzierte nicht nur ein EKG-Gerät für Bosnien, sondern legte letztlich auch den Grundstein für den Verein. Der publizierte bis dato zehn Bände mit Texten junger Menschen. „Auch Alexander Tuschinskis Texte sind dabei“, sagt Herrmann, stellvertretende Vorsitzende des Förderkreises, und lacht. Sie betont: „25 Prozent der jungen Menschen, deren Texte wir veröffentlichten, haben internationale Wurzeln.“ Es sei bewegend zu erleben, wie Kinder – auch aus schwierigen Verhältnissen – über sich hinauswuchsen und mutig ihre Dichtungen auf der Bühne vorläsen. Besonders stolz ist sie, dass die Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg Band eins bis neun ins Kindertext-Archiv aufnahm.

Sonderstellung im Archiv

Letzteres bewahrt 100 000 Werke von Kinder und Jugendlichen. Sascha Zielinski von der philosophischen Fakultät der Luther-Universität schrieb, dass die Anthologien aus Stuttgart eine Sonderstellung im Archiv einnähmen, „nicht zuletzt aufgrund der internationalen Herkunft vieler Jugendlicher“. Sie bewahrten das Schreiben von Jugendlichen in ganz besonderer Weise.

Besonders sei auch die Zusammenarbeit mit Gerda Herrmann, betont Regisseur Tuschinski. „Faszinierend ihre Erzählungen, Bilder, Dokumente, wie persönliche Geschichte über Dekaden lokale und nationale Geschichte abbildet, politisches und menschliches Engagement mit Kunst und Kultur verknüpft.“ Herrmanns Anliegen: Bewusst machen, wie Sprache Sichtweisen und Handeln beeinflussen kann. „Gerade heute in diesen politisch schwierigen Zeiten ist es wichtiger denn je, die Menschen zu sensibilisieren.“ Sie hält es mit ihrem 1944 gefallenen Vater. Der von Nazis denunzierte Verbandsprüfer hinterließ ihr bewegende Briefe. „Kopf hoch heißt die Devise für mich, ich lasse mich nicht kleinkriegen“, schreibt er. Herrmann liest es und sagt: „Mein Motto lautet, den Mut nicht verlieren – und auch nicht den Humor!“