Der Busfahrer hatte nicht viel Platz, wenn er eine Straßenbahn überholen wollte. Foto: /Udo Becker

So manch ein Spiegel ist abgerissen worden: Bus und Straßenbahn teilten sich bis 1987 die Neue Weinsteige, weshalb es zu riskanten Begegnungen kam. Unser Stuttgart-Album blickt zurück auf die Historie dieser Strecke mit Aussicht.

Da passte kaum ein Blatt Papier dazwischen: Auf der Neuen Weinsteige, die dank ihrer Aussicht als die schönste Straßenbahnstrecke von Europa galt, kamen sich bis 1987 zwei gelbe Verkehrsmittel oft gefährlich nah – Bus und Strampe. Udo Becker, der uns ein Foto dieser riskanten Annäherung geschickt hat, erinnert sich sehr gut daran – schließlich war er berufsbedingt auf dieser Strecke oft unterwegs. „Parallelfahrten zur Strampe waren immer recht spannend und kosteten den einen oder anderen Spiegel gerne mal das ,Leben‘“, berichtet der frühere Busfahrer.

Wenn man heute mit der Stadtbahn von der City auf die Filderhöhen hochfährt, sieht man triste Wände an einem vorbeiflitzen. Wer in der Gelben einen kurzen Blick auf die Pracht des Kessels erhaschen will, muss auf der Hut sein, um das Aussichtsloch nicht zu verpassen. Vor fast 36 Jahren sind der Sechser und der Fünfer – diese Linien verkehrten damals dort – in die parallel verlaufende Tunnelröhre des Hügels verbannt worden.

Stuttgart besitzt zwei befahrbare Weinsteigen

Stuttgart und San Francisco haben eine imposante Gemeinsamkeit: steile Aufstiege und traumhafte Aussichten. 282 Meter hoch ist der höchste Hügel der Weltstadt an der amerikanischen Westküste – unser Degerloch liegt 448 Meter über dem Meeresspiegel. Um Weinberge zu sehen, fahren die Besucher von San Francisco ins Nappa Valley – bei uns wachsen die Reben mitten in der Stadt und bis runter in die City.

Stuttgart besitzt gleich zwei befahrbare Weinsteigen. Der extrem steile Weg der Alten Weinsteige ist im Jahr 1350 erstmals erwähnt worden. Bis zu 16 Pferde brauchte man, um den steilen Berg zu bewältigen. Weil manche Pferdefuhrwerke den Aufstieg nicht schafften, fasste der württembergische König Wilhelm I. im Jahr 1822 einen Beschluss. Er beauftragte seinen Oberbaurat Eberhard von Etzel, die Residenzstadt an die südlich gelegenen und damals noch selbstständigen Gemeinden Degerloch und Möhringen über eine breite Panoramastraße anzubinden. Nach jahrelangen Bauarbeiten wurde sie am 23. Oktober 1831 eröffnet.

Da von 1904 an auch Straßenbahnen auf ihr fuhren und immer mehr Autos die Pferde ersetzten, hat man die Steige in den 1930ern deutlich verbreitert. Damals hieß sie noch nach dem königlichen Auftraggeber Wilhelmstraße und kam erst 1946 zu ihrem heutigen Namen. Die Ära der traumhaften Aussicht aus der Straßenbahn endete am 25. September 1987. Für die Stadt ist dieser Tag ein historisches Datum. Da hat man die Strampe an den Rand gedrängt – und im Berg verschwinden lassen. Jetzt gehörte die Weinsteige den Autofahrern und mutigen Radfahrern.

Elke Wallace freut sich im Internetportal des Stuttgart-Albums über die Strampe-Fotos von der Weinsteige. „Das war mein täglicher Weg zur Schule und Lehre“, schreibt sie, „so eine tolle Aussicht immer!“ Auch wenn die Bahn jetzt schneller in die Stadt fahre, vermisse sie die Fahrten mit Fernblick noch immer sehr. Und Heiko Volz fasst seine Erfahrungen mit dieser Strecke so zusammen: „In den 80ern mit dem Motorrad nur auf dem Hinterrad hinuntergefahren, mit dem Alfa Spider unfreiwillig eine 360-Grad-Drehung gemacht und mit dem Käfer in eine Massenkarambolage mit Totalschaden geraten.“

Bis 1922 verlangte die Stadt Zoll- und Pflastergeld

Als Pionierleistung der Ingenieurkunst rühmte man die Neue Weinsteige nach ihrer Fertigstellung. Der Bau hat im 19. Jahrhundert 76 000 Gulden gekostet, was damals als sehr teuer galt. Bis 1922 verlangte die Stadt Zoll- und Pflastergeld.

Mit der Verlegung der Bahn in den Tunnel am Straßenrand versprachen sich die Stadtplaner in den 80ern weniger Staus auf dieser kurvigen und stark befahrenen Strecke, die den Talkessel mit dem um 200 Meter höher gelegenen Degerloch verbindet. Die Rathaus-Rechnung ging nicht auf. Obwohl die Strampe fehlte, ist das Verkehrsaufkommen immer weiter gewachsen. Um es positiv zu sehen: Wenn schon Stau, dann könnte er kaum aussichtsreicher sein als hier.

Autofahrer müssen auf der Einfallstraße Platz abgeben. Der Geh- und Radweg ist verbreitert worden, damit dort Radfahrer ohne Angst vor den Autos unterwegs sein können. Auch die Stützmauern sind saniert worden. Bei den Strampe-Fotos von der Weinsteige geht vielen Betrachterinnen und Betrachtern das Herz auf. Sie erkennen darauf einen Teil ihrer Jugend und Kindheit.

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