Foto vom Gaskessel im Jahr 1969: Einige Gebäude stehen heute schon nicht mehr. Foto: EnBW/Maier-Gerber

Bis in die 1970er hinein wurden weite Teile der Region vom Stuttgarter Osten aus mit Gas versorgt. Mit der Stilllegung des Flüssiggasspeichers eröffnet sich die Möglichkeit für einen ganz neuen Stadtteil. Die Geschichte des Stuttgarter Gaskessels hat viele Facetten.

Stuttgart - Über den CO2-Ausstoß bei der Stadtgas-Gewinnung machte sich zu Wirtschaftswunder-Zeiten niemand Gedanken, auch nicht über mögliche Auswirkungen der Teergruben im Gaswerk aufs Grundwasser und auf das Mineralwasser. Das wird die Stadt auch dann noch beschäftigen, wenn das Gaswerk in Gaisburg Geschichte ist.

Stadtgas

Die Geschichte des Stadtgases beginnt in Großbritannien im 19. Jahrhundert. Es handelte sich dabei um vor allem aus Kohle gewonnenem Brenngas, das zunächst hauptsächlich zur Beleuchtung von Straßen, Wohnungen und Betrieben verwendet wurde. Deswegen wurde es auch Leuchtgas genannt. Die Verbreitung von Stadtgas durch den Ausbau der Gasleitungsnetze hatte erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen: In Fabriken und Spinnereien konnte durch die Beleuchtung wesentlich länger gearbeitet werden, Nachtschichten wurden möglich – und es konnte auch mehr gelesen werden. Das erste, privat betriebene, Stuttgarter Gaswerk bestand von 1845 bis 1878 an der noch kaum bebauten Seidenstraße im Westen. Als Stuttgart immer größer wurde, mussten die Betreiber einen neuen Standort suchen.

Gaisburg

Fündig wurde die Betreibergesellschaft im damals eigenständigen Dorf Gaisburg. Dort wurde 1875 das neue und viel größere Gaswerk in Betrieb genommen. Dieser Standort hatte mehrere Vorteile. Er lag verkehrsgünstig am Neckar mit Bahnanschluss (später kam der Schiffanschluss dazu), wodurch die Versorgung mit Kohle gesichert war. Er lag auch an einem der tiefsten Punkte der Gemarkung, tiefer also als das zu versorgende Stadtgebiet. Da Stadtgas leichter als Luft ist, also nach oben steigt, verbreitete es sich sozusagen fast von selbst im Leitungsnetz in Richtung der höher gelegenen Innenstadt.

Außerdem lag der neue Standort östlich des immer dichter bewohnten Stadtgebiets. Da hierzulande meistens eine Westwetterlage vorherrscht, blies der Wind die bei der Stadtgas-Produktion nicht zu knapp aufsteigenden Abgase weg von den in der Stadt wohnenden Menschen. Für die Gaisburger hatte das nicht ganz so angenehme Folgen: Wenn im Gaswerk das Koks abgelöscht wurde, stieg eine schmutzige Dampfwolke auf. So entstand der berüchtigte „Gaisburger Regen“.

Gaswerk

Im Gaswerk Stuttgart-Gaisburg oder Stuttgart-Ost wurde von 1875 bis Anfang der 1970er Jahre aus Kohle Stadtgas erzeugt. Die Stadt übernahm den Betrieb 1899, Gaisburg wurde am 1. April 1901 eingemeindet. Die ersten Jahrzehnte waren von einem kontinuierlichen Wachstum des Gaswerks geprägt. Schon zur Eröffnung 1875 war die Kapazität des Gaswerks Gaisburg 43-mal größer als die an der Seidenstraße. Ab den 1920ern wurde die Anlage in Gaisburg „zur zentralen Versorgungsanlage des Mittleren Neckarraums ausgebaut“, heißt es in der Veröffentlichung „Gaswerke in Stuttgart“, die als Heft 2/2007 in der Schriftenreihe des Amtes für Umweltschutz erschien. Die Entwicklung der Stadtgas-Produktion im Gaswerk Stuttgart-Ost wird dort so angegeben: Bei der Eröffnung 1875 lag sie bei zwölf Millionen Kubikmetern Gas pro Jahr,

1929 waren es schon mehr als 80 Millionen, 1969 auf dem Höhepunkt der Produktion 547 Millionen Kubikmeter. 1913 war das Stuttgarter Gasrohrnetz laut der Veröffentlichung 318 Kilometer lang, damals „brannten trotz der elektrischen Konkurrenz noch immer 5032 Gaslaternen und 144 Öllampen auf öffentlichen Straßen und Plätzen“. 1929 wurden von Gaisburg aus „100 000 Anschlüsse in 51 Gemeinden über ein 770 km umfassendes Gasnetz“ versorgt. 1969 war das Gaswerk auch überregional unverzichtbar: Versorgt wurden das Remstal bis Schorndorf, die Filderebene bis an den Albrand, neben Stuttgart auch Fellbach, Esslingen, Ludwigsburg, Kirchheim/Teck, Strümpfelbach, Leonberg und Plochingen. In seinen besten Zeiten arbeiteten im Gaswerk mehrere Hundert Arbeiter rund um die Uhr. Für sie entstand in den 1920erm auch die „Gasarbeitersiedlung an der Hackstraße“ mit mehr als 100 Wohnungen.

Gasspeicher

Für eine sichere Energieversorgung waren und sind Speicheranlagen unverzichtbar. Im Gaswerk Gaisburg waren das anfangs drei ummauerte Gaskessel, die aber bald zu klein wurden. Später kamen zwei Teleskop-Gasbehälter dazu, die jeweils 100 000 Kubikmeter Gas fassten. Am 1. August 1929 wurde der große MAN-Scheibenbehälter in Betrieb genommen, mehr als 100 Meter hoch, mit einem Durchmesser von 69 Metern und einem Fassungsvermögen von 300 000 Kubikmetern Gas. Dieser große Gaskessel war im Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Ziel für die alliierten Streitkräfte. Um ihn vor Luftangriffen zu schützen, wurde der Kessel 1938 mit einem Tarnanstrich versehen.

Der Entwurf dafür stammte von keinem geringeren als Oskar Schlemmer, der als von den Nationalsozialisten verfemter Künstler nur durch solche Aufträge für das Malergeschäft Albrecht Kämmer Geld verdienen konnte. Die Luftangriffe der Alliierten sorgten für schwere Zerstörungen in Gaisburg. Der Gasbehälter wurde im Februar 1944 schwer getroffen. Gleich nach dem Krieg wurde er in seiner weitgehend originalgetreuen Form wiederaufgebaut. Mit dem Ende der Stadtgas-Produktion und der Umstellung auf Erdgas veränderte sich die Rolle des Gaswerks. Es wurde vom Produktions- zum Speicher- und Verteilungszentrum. 1971 wurde der erdbedeckte Flüssiggasspeicher in Betrieb genommen, später kamen zwei weitere Kugelbehälter für Flüssiggas dazu. Der Gaskessel diente seitdem nur noch als Puffer für Zeiten mit Spitzenverbrauch.

Perspektive

Die Produktionsanlagen für die Stadtgas-Erzeugung sind auf dem großen Gaswerksgelände in Gaisburg längst verschwunden, auch die meisten Speicheranlagen sind schon seit vielen Jahren abgebaut. Übrig geblieben sind lediglich der Flüssiggasspeicher und der Gaskessel, der denkmalgeschützt ist, das Stadtbild prägt – und für echte Stuttgarter als weithin sichtbare Orientierungsmarke unverzichtbar ist. Der Erdspeicher dagegen steht zur Disposition, mit der Demontage der zugehörigen großen gelben Leitungen und weiterer Anlagen wurde bereits begonnen. Die giftigen Hinterlassenschaften aus der Stadtgas-Produktion werden die Verantwortlichen der Landeshauptstadt noch etliche Jahre beschäftigen.

Die Abfälle waren in Teergruben auf dem ganzen Gaswerksareal bis hinüber zum heutigen Kraftwerksgelände auf der anderen Seite der Gaisburger Brücke entsorgt worden. Die Giftstoffe drohen ins Grundwasser zu sickern – und das in der Kernschutzzone des Mineralwassers. Deswegen wird der Boden auf dem Areal schon seit etlichen Jahren aufwendig saniert, sichtbares Zeichen dafür sind aktuell die beiden großen weißen Zelte in Wasen-Festzelt-Größe, in denen die zum Teil übel riechenden Stadtgas-Hinterlassenschaften aus dem Boden geholt und für eine sichere Entsorgung vorbereitet werden. Mit dem Ende des Gaswerks bietet sich für die Landeshauptstadt aber auch eine vielversprechende und einzigartige Möglichkeit zur Stadtentwicklung:

Auf der rund 27 Hektar großen, weitgehend dem Energieversorgungskonzern EnBW gehörenden Fläche zwischen Gaskessel und altem Wasserwerk Berg könnte ein ganz neuer Stadtteil entstehen. Die EnBW will das Areal in Zusammenarbeit mit der Stadt und ähnlich dem nicht weit entfernten Stöckach-Areal selbst entwickeln und bereitet gerade mit der Stadt einen städtebaulichen Wettbewerb vor. Es wäre das mit deutlichem Abstand größte Projekt der EnBW zur Quartiersentwicklung.

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