So sah das „Public Viewing“ im Juni 1988 bei der Fußball-EM auf dem Cannstatter Campingsplatz aus Foto: Baumann

Fürs gemeinsame Fußball-Erlebnis liefen einst wuchtige Röhrengeräte nebeneinander oder man drückte sich die Nase am Schaufenster platt. Erst seit 2007 steht „Public Viewing“ im Duden. Vor dem Start der Fußball-WM erinnert unser Stuttgart-Album an das frühere Rudelgucken.

Stuttgart - Unter „Public Viewing“ verstehen die Engländer die öffentliche Aufbewahrung einer Leiche. Für Deutschland erklärt der Duden denselben Begriff ganz anders: „Gemeinsames Sichansehen von auf Großbildleinwänden im Freien live übertragenen Veranstaltungen.“ Seit 2007 stehen die beiden englischen Worte im Hauptwerk der deutschen Sprache. Fürs Rudelgucken liefen einst in Stuttgart nur einsame Fernsehgeräte in Kaufhäusern.

Als es das deutsche Public Viewing noch gar nicht gab, sangen die Nationalspieler alle vier Jahre einen WM-Song – meist zielstrebig an der Melodie vorbei. „Mexico mi amor“ hieß etwa 1986 der Song des DFB-Teams mit Peter Alexander. Das Kaufhaus Hertie hatte in Stuttgart große Mexiko-Hüte aufgehängt und in der Sportabteilung kleine TV-Geräte aufgestellt. Reißen die Deutschen den Mexikanern am kommenden Sonntag die großen Hüte runter? Das erste Spiel von Jogis Jungs bei der Fußball-WM ist am 17. Juni um 17 Uhr gegen „Mexico mi amor“.

„Waldmeister“ stand aus dem Schlossplatz

Wie sagte man früher zum Public Viewing? Schaufenster-Gucken? Während wichtiger WM-Spiele drängelten sich die Menschen auf der Königstraße vor Kaufhäusern, schleckten fast deren Scheiben ab, hinter den Fernsehgeräte liefen. Auf einem Foto von der Fußball-EM 1988 sieht man einen Streifenwagen der Polizei. Die Beamten waren herangefahren, um nicht etwa die Ansammlung aufzulösen – sie stiegen aus und schauten selbst zu. Im selben Jahr saßen Fans auf dem Cannstatter Campingplatz vor zwei wuchtigen Röhrengeräte, die man erhöht aufgestellt hatte.

Am 8. Juli 1990, als in Rom die Mannschaft von Coach Kaiser zum dritten Mal für Deutschland den WM-Titel holte, hatten Scherzbolde am Schlossplatz ein riesiges Transparent gehisst. Aufschrift: „Waldmeister“. Nicht jeder nahm den Triumph so ernst. Dabei hatte auch ein Lockenkopf von hier für den Erfolg gesorgt. VfB-Spieler Guido Buchwald wurde zwei Tage nach dem Finalsieg von OB Manfred Rommel im Rathaus empfangen. Die Fans auf dem Marktplatz wussten, was ihr „Diego“ braucht, um groß und stark zu bleiben. „Spätzle statt Spaghetti“ stand auf einem Transparent. Er möge nicht zum AC Parma wechseln, bat Rommel, was Buchwald auch nicht tat.

Drei Bücher zu unserer Serie erschienen

Nach dem Halbfinale in Italien 1990 – Deutschland siegt im Elfmeterschießen über England – warfen die Leute vom Stadtradio, das im Wilhelmsbau seine Studios hatte, Reklameblätter aus dem fünften Stock. Weil es schnell gehen musste und man nicht im Rathaus um Erlaubnis fragen konnten, bauten die Radioleute ohne Genehmigung eine mobile Disco zum Feiern unten auf dem Rotebühlplatz auf. Anderntags stand in der Zeitung: „Stuttgarter feiern wie Südländer.“

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