1986 überträgt das Kaufhaus Hertie mit einem kleinen Fernsehgerät die Fußball-WM von Mexiko Foto: Kraufmann

Seit 2007 steht „Public Viewing“ im Duden. Einst liefen fürs Rudelgucken nur einsame TV-Geräte in Kaufhäusern. Nach dem Fußballspiel aber zogen die Massen in die City zu spontanen Feiern – wie 1990 nach dem WM-Sieg der Deutschen in einer verrückten Nacht.

Stuttgart - Seit 2007 steht „Public Viewing“ im Duden. Einst liefen fürs Rudelgucken nur einsame TV-Geräte in Kaufhäusern. Nach dem Fußballspiel aber zogen die Massen in die City zu spontanen Feiern – wie 1990 nach dem WM-Sieg der Deutschen in einer verrückten Nacht.

Am 8. Juli 1990, als in Rom die Mannschaft von Coach Kaiser zum dritten und vorerst letzten Mal für Deutschland den WM-Titel holt, haben Scherzbolde am Schlossplatz ein riesiges Transparent gehisst. Aufschrift: „Waldmeister“.

Ironie in einer langen Jubelnacht. Nicht jeder nimmt den Triumph so ernst. Dabei hat auch ein Lockenkopf von hier für den Erfolg gesorgt. VfB-Spieler Guido Buchwald wird zwei Tage nach dem Finalsieg von OB Manfred Rommel empfangen. Die Fans auf dem Marktplatz wissen, was ihr „Diego“ braucht, um groß und stark zu bleiben. „Spätzle statt Spaghetti“ steht auf einem Transparent. Er möge nicht zum AC Parma wechseln, bittet Rommel, was Buchwald auch nicht tut. Der zweite Stuttgarter Weltmeister, Jürgen Klinsmann, ist schon in Italien ( Inter Mailand) und fehlt im Rathaus.

Klinsi hätte nicht umziehen müssen, um italienisches Temperament zu erleben. „Stuttgarter feiern wie Südländer“, lautet die Überschrift in den Stuttgarter Nachrichten nach dem Halbfinale. Im Elfmeterschießen hat Deutschland England besiegt. Das Stadtradio, das im Wilhelmsbau seine Studios hat, wirft Reklameblätter aus dem fünften Stock. Weil es schnell gehen muss und man deshalb nicht im Rathaus um Erlaubnis fragen kann, bauen die Radioleute ohne Genehmigung eine mobile Disco zum Feiern unten auf dem Rotebühlplatz auf.

Rasch strömen Tausende, die von daheim kommen – Rudelgucken im Biergarten ist damals noch nicht in Mode, das Wort Public Viewing kennt man gar nicht. Doch jetzt braucht die Anspannung nach dem Elfmeter-Krimi ihr Ventil. Das ist gut so, sagt man sich bei der Polizei und genehmigt die WM-Disco spontan. Die Straßen rund um den Wilhelmsbau werden gesperrt. Nach einem großen Fußballspiel, so die Experten, müssen sich hitzige Gemüter bei Musik austoben können. Motto: Rock statt Randale.

„Der ganze Rotebühlplatz wurde zur Tanzfläche“, steht anderntags in unserem Blatt. Der Sieg über die Engländer wird zunächst in englische Sprache zur Musik einer englischen Band gefeiert: „We are the champions!“ Dann kommt jemand auf die Idee, die deutschen Nationalhymne zu spielen. Damit aber kann kein Tonträger des Stadtradios dienen. Also rennt der DJ in den nahen Club Boa und holt von dort die gewünschte Platte fürs Nationalgefühl.

Nach dem riesigen Jubel beim Halbfinale ist die Polizei fürs Finale vorgewarnt. Diesmal werden die Straßen noch schneller und weiträumiger gesperrt – Deutschland holt den Titel! Wieder ist der Rotebühlplatz der Feier-Schwerpunkt. Das Stadtradio hat zum Höhepunkt eine Live-Band engagiert. Taste of Champagne aus Ludwigsburg spielt die Nationalhymne auf der E-Gitarre. Gefeiert wird, bis die Kehrmaschinen um 4 Uhr kommen. Die Polizei schätzt, dass sich 35 000 Fans in der Stadt befinden.

„So eine verrückte Nacht“, sagt der Polizeisprecher, „hat diese Stadt noch nie erlebt.“ Er kann nicht wissen, was 2006 beim „Sommermärchen“ in Stuttgart passieren sollte. Das Public Viewing feiert mit diesem eigenartigen Wort auf dem Schlossplatz Premiere. So wird seit der Fußball-WM in Deutschland die Liveübertragung von Sportereignissen auf Videowänden bezeichnet. Weil die Eintrittskarten nicht reichen, sollen Fans auf öffentlichen Plätzen die Spiele kostenlos sehen können. Ein deutsches Wort hat sich nicht durchgesetzt. Man wählt ein Lehnwort, das im englischen Sprachraum eine andere Bedeutung hat: In den USA bedeutet Public Viewing die öffentliche Präsentation einer Sache, etwa beim Tag der offenen Tür. Die Briten bezeichnen damit die Aufbahrung eines Toten.

Als es Public Viewing noch nicht gibt, singen die Spieler alle vier Jahre einen WM-Song. „Mexiko mi amor“ heißt 1986 der Song des DFB-Teams mit Peter Alexander. Das Kaufhaus Hertie hat in Stuttgart große Mexiko-Hüte aufgehängt. In der Sportabteilung laufen die Spiele auf einem kleinen Fernsehgerät. Auch 1986 in Mexiko spielt Deutschland gegen Frankreich, wie bei der WM am Freitag in Brasilien. In Mexiko hat Deutschland im Halbfinale mit 2:0 gewonnen – mit Toren von Brehme und Völler.

Auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums erinnern sich etliche User an ihr erstes „Public Viewing“. Gisela Knödel schreibt: „Bei mir war’s 1954. Da durfte man nicht laut auf den Straßen sein. Schließlich hatten wir den Krieg verloren.“ Ingrid Shell erinnert sich an ein Dorffest von 1974: „Mit Röhrenfernsehern – auch noch das Spiel gegen die damalige DDR.“ Beim Betrachten der Fotos von 1986 und 1990 fragt Tom Jacobsen: „Wie sagte man früher zum Public Viewing? Schaufenster-Gucken?“

Das Stuttgart-Album ist als Buch im Silberburg-Verlag erschienen.