Demonstranten am Königsbau. Foto: dapd/Daniel Maurer

Dass die EU der Atomkraft ein Ökosiegel verleihen will, entsetzt Generationen von Demonstranten, die seit den 1970ern gegen Kernenergie auf die Straße gegangen sind. Stuttgart spielt eine gewichtige Rolle beim Widerstand mit der roten Smiley-Sonne.

Stuttgart - In der überhitzten Debatte über Atomstrom war in den 1980ern auch mal Platz für Spaß. Ein Spruch dieser Zeit lautete: „Wozu Kernkraft? Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose.“ Kann Strom, wenn er von Kernkraftwerken stammt, neuerdings sogar grün sein? Das geplante „Greenwashing“ der Europäischen Union hat eine zutiefst emotionale Debatte ausgelöst. Entsetzt sind viele Menschen, die Teil einer Massenbewegung waren und seit fast fünf Jahrzehnten mit dem Logo „Atomkraft? Nein danke“ losgezogen sind. Die rote Smiley-Sonne, 1975 von einer dänischen Studentin entworfen, hat als Aufkleber auf Autos, auf Transparenten sowie auf Buttons aller Art mehrere Generationen begleitet.

Der Kampf um Wyhl wurde zur Zäsur für das deutsche Atomprogramm

Als die CDU-geführte Landesregierung von Hans Filbinger in Stuttgart 1974 bekannt gegeben hat, man werde im Örtchen Wyhl ein Kernkraftwerk bauen, war’s vorbei mit der Ruhe im „Ländle“, wie man Baden-Württemberg verniedlichend nannte. Ausgerechnet in Deutschlands sonnenreichstem und wärmstem Weinbaugebiet sollte der Atomstrom eine neue Zeit einläuten. Die neue Zeit wurde tatsächlich eingeläutet, auch wenn in Wyhl niemals ein Meiler gebaut worden ist. Die neue Zeit war das Großwerden der Anti-Atomkraft-Bewegung, die 1980 letztendlich zur Gründung der Grünen als Partei geführt hat. 1983 gelang auf Anhieb der Einzug in den Bundestag. Der Kampf um Wyhl wurde zur Zäsur für das deutsche Atomprogramm. Eine Massenbewegung zwang die Landesregierung und das übermächtig erscheinende Badenwerk (heute EnBW) in die Knie.

Viele Jahre später, am 12. März 2011, zwei Wochen vor der Landtagswahl, haben Zehntausende eine 45 Kilometer lange Menschenkette zwischen dem Atomkraftwerk Neckarwestheim und der Villa Reitzenstein gebildet, in der mit Stefan Mappus ein CDU-Regierungschef saß. „Ned schwätza - abschalda“, stand auf einem der Transparente. Die Demo war schon lange geplant. Niemand konnte ahnen, wie aktuell sie werden sollte. Denn am 11. März 2011 um 14.47 Uhr (Ortszeit) begann mit dem Tōhoku-Erdbeben eine Unfallserie, die zur Nuklearkatastrophe von Fukushima führte. Gewählt wurde mit Winfried Kretschmann der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland.

Kretschmann sieht sich nicht als „Katastrophengewinner“

„Nein, ich bin kein Katastrophengewinner“, hat Kretschmann später mit gereiztem Unterton gesagt. Die japanische Tragödie habe aber gezeigt, wovor die Grünen immer gewarnt hätten, nämlich „vor den Risiken dieser Technologie“. Und diese Technologie soll nun „klimafreundlich“ sein? Für viele im Land ist undenkbar, was sich vor allem Frankreich wünscht, wo das Comeback der Atomkraft ausgerufen wird.

In der Debatte über das neue Ökosiegel der EU werden Erinnerungen an 1986 wach. Plötzlich war die Gefahr da – aber man konnte sie nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken. So ist das in der Coronapandemie heute wieder. In der Nacht zum 1. Mai 1986 ist vier Tage nach der Atomkatastrophe im mehr als 2000 Kilometer entfernten Tschernobyl die aus dem explodierten Reaktor ausgestoßene radioaktive Fracht in Stuttgart angekommen.„Die Wolke ist da.“ Mit diesen Worten hat sich der Hohenheimer Physikprofessor Hermann Schreiber am Maifeiertag in der Lokalredaktion der Stuttgarter Zeitung gemeldet. Auch damals gab es Hamsterkäufe. In den Supermärkten stritten sich Kunden um knapp gewordene H-Milch. Die Menschen hatten große Sorgen, ob diese nun übertrieben oder berechtigt waren, sie lauschten gebannt den Experten im Fernsehen. Tabletten gegen das radioaktive Jod 131 waren rasch in allen Apotheken ausverkauft. Die Tschernobyl-Katastrophe und die Ängste danach führten zu weiteren, noch größeren Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, langfristig zu einem Umdenken.

„Besser Becker als Bequerel“ stand am Jugendhaus Degerloch

Am Jugendhaus Degerloch hing ein Transparent mit der Aufschrift: „Besser Becker als Bequerel“. Ein Jahr davor war Boris Becker Wimbledon-Sieger mit 17 geworden. In Schutzanzügen und mit Gasmasken demonstrierte man gegen die Atomenergie. In Sillenbuch verkauften die „Mütter gegen Atomkraft“ selbst beschafftes Milchpulver als saubere Babynahrung direkt vom Lastwagen. Die Radioaktivität stieg stark an. In Stuttgart meldeten die Messgeräte den Faktor 30 über normal. Die Behörden warnten vorm Genuss von frischer Milch und Freilandgemüse. Im Großmarkt wurden Paletten mit Obst und Gemüse per Geigerzähler überprüft. Kontrolleure beschlagnahmen die belastete Ware tonnenweise. „Ich habe noch nie so elementare Ängste bei der Bevölkerung erlebt wie in diesen Tagen“, sagte später der städtische Umweltmediziner Hanns Stichler. Mit Corona sind elementare Ängste zurückgekehrt.

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