Damen-Kraftsport in einem Wasen-Festzelt in den 1960er Jahren: jede Kellnerin musste zehn Krüge wuchten Foto: Nachlass von Edgar Burkhardt

Zehn Maßkrüge gleichzeitig wuchten: Seit Jahrzehnten müssen’s auch Frauen können, die auf dem Cannstatter Volksfest durstige Kehlen versorgen. Der Rekord liegt bei 14 Krügen. Vor dem Wasen-Start erinnert das Stuttgart-Album an die Historie des Bierfestes.

Stuttgart - Zuckerwatte und Schiffsschaukel, Ponyreiten und Kettenkarussell: Wenn Gisela Salzer-Bothe an ihre Jugend auf dem Cannstatter Wasen zurückdenkt, wird sie von sentimentalen Gefühlen erfasst. Wie schön der Volksfest-Rundgang mit ihrer Oma und Opa samt anschließendem Zeltbesuch damals doch immer war! Und heute? „Heute findet man keinen Platz mehr, um ein Göckele zu essen“, klagt sie im Facebook-Forum unseres Geschichtsprojekts Stuttgart-Album. „Saufkultur und ewige Party“ würden alles überlagern. Und Kommentator Stefan Heinrichs hat keine Lust, „ein halbes bis ein Jahr vorher“ seinen Platz im Festzelt zu reservieren.

War’s früher auf dem Wasen gemütlicher? Brauchtums-Experte Wulf Wager lässt die Kritik nicht gelten, die jedes Jahr ansetzt. „Es gibt genügend schöne Biergärten und kleinere Zelte, bei denen man nicht reservieren muss und dennoch schön feiern kann“, schreibt er auf unserer Facebook-Seite.

Erstes Volksfest im Jahr 1818

Doch die meisten wollen dorthin, wo alle sind. Oder wird es diesmal selbst in den beliebtesten Zelten Lücken geben, weil eine diffuse Terrorangst Wasenfans vom Besuch abhält? In München hat jetzt die bayerische Society-Lady Regine Sixt ihre traditionelle Damen-Wiesn – Vorbild ähnlicher Promitreffs auf dem Wasen – erstmals in 25 Jahren abgesagt, aus Sorge, es könnte etwas passieren. Wulf Wager warnt vor „Panikmache“ und ruft via Stuttgart-Album dazu auf, „unser Fest wie seit 198 Jahren“ zu feiern.

Feiern mit und ohne Bayerndirndl. Auf alten Postkarten sieht man, dass die Besucher schwäbische Trachten trugen. Am 28. September 1818, einen Tag nach dem 36. Geburtstag des Feststifters König Wilhelm I., fing’s mit dem Volksfest an – in den feuchten Auen beim noch nicht aufgestauten Neckar, wo die Rammler ungestört waren. „Aufm Wasa graset Hasa“ singt man noch heute.

Der Hase ist nicht das einzige Fruchtbarkeitssymbol auf dem Wasen. Seit Anbeginn ist die Fruchtsäule das Wahrzeichen für das „größte Fest der Schwaben“. Schon 1818 ragte eine Säule mit Getreide und Gemüse hoch empor und erinnert bis heute an den landwirtschaftlichen Ursprung des Festes. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Fruchtsäule einige Jahre nicht aufgestellt – mit der königsblauen Farbe galt sie als „monarchistisches Überbleibsel“. Die heutige Fruchtsäule entstand 1972 und wird in Durchmesser, Höhe und Farbe dem historischen Modell nachempfunden. Sie ist 26 Meter hoch, thront auf einem fünf Meter hohen Sockel und wiegt etwa drei Tonnen.

Der legendäre Vogeljakob

Der Wasen war schon immer mehr als eine Zecherei. Er ist auch ein Jahrmarkt, ein Rummel. Legendär: der Vogeljakob, der jede Vogelhochzeit moderieren könnte. Und der Wasen ist ein Fitness-Training, ja eine Kraftsportveranstaltung. Zehn gefüllte Masskrüge müssen selbst weibliche Kellnerinnen wuchten können – dabei kommt es auf die Technik an, der Krug wiegt mehr als der Inhalt – , also mehr als 20 Kilo. „Bei uns lag der Rekord bei 14 Krügen“, erinnert sich Wirtin Conny Weitmann, die bei ihrem Vater, dem Wasen-Urgestein Walter Weitmann, gearbeitet hat. Damals trug nur das Personal Dirndl. Der Wasen ändert sich – und bleibt sich immer treu. Zuckerwatte jedenfalls ist noch immer gut für nostalgische Freuden.

Diskutieren Sie mit unter www.facebook.com/Album.Stuttgart. Im Silberburg-Verlag gibt es zwei Bücher zu unserer Geschichtsserie „Stuttgart-Album“.