Auf der Flucht vor ihrem Mann Ike Turner ist Tina Turner 1976 im Dachswald in Stuttgart bei Freunden untergetaucht – und besuchte den Wasen. Zum Start des 177. Cannstatter Volksfestes schauen wir auf die Geschichte des Rummels zurück.
Für vier Wochen hat die Popikone Tina Tuner im Jahr 1976 an der Pfeilstraße im Stuttgarter Dachswald gewohnt. Auf der Flucht vor ihrem Ehemann Ike Turner hatte die Queen of Rock eine Bleibe bei dem Architekten Jochen Baeuerle gefunden, den sie mit seiner inzwischen verstorbenen Ehefrau 1971 nach einem Konzert in der Liederhalle kennengelernt hatte. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Mit der Familie ging’s auf den Wasen, und der Sohn durfte mit dem Kopftuch tragenden Weltstar Boxautos fahren.
An diesem Freitag startet der Rummel wieder – mit Boxautos, Fruchtsäule, Riesenrad und vielem mehr. Wer heute in den Bierzelten sieht, wie die Kellnerinnen und Kellner mit voll beladenen Tellern und Krügen umherwuseln, mag kaum glauben, dass der Ursprung des Cannstatter Volksfestes in einer Hungersnot liegt. Ein Vulkanausbruch im heutigen Indonesien hat schon vor weit über 200 Jahren eine Klimakatastrophe verursacht.
In Deutschland regnete es nur noch. Getreide verschimmelte, Kartoffeln verfaulten, nichts wollte reifen. Ernteausfälle, Armut, 1816 war das Jahr ohne Sommer – all dies brachte König Wilhelm I. dazu, die Landwirtschaft zu reformieren und ein Volksfest zu feiern. Der Monarch wollte mit seiner Frau, der Königin Katharina, das Volk erfreuen. Am 28. September 1818, einen Tag nach Wilhelms 36. Geburtstag, ist die Fruchtsäule auf dem Wasen errichtet worden – am noch nicht aufgestauten Neckar.
Man blickte von diesem Ort auf die königliche Villa Bellevue an der Wilhelma. Das Fest mit Pferderennen beschränkte sich auf einen Tag. Es sollen 30 000 Besucherinnen und Besucher gekommen sein – also weit mehr Menschen, als in Stuttgart und Cannstatt damals lebten. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte sind Stuttgart und Bad Cannstatt immer größer geworden – und das Volksfest verlängerte sich auf immer mehr Tage.
Was heute Selfies und WhatsApp-Nachrichten sind, waren früher Postkarten. Früher war es sehr beliebt, Grüße vom Volksfest zu versenden – so wie man heute über Facebook seine Fotos verbreitet. Die Freunde und Verwandten sollten Anteil nehmen, wenn man selbst eine gute Zeit hat. Gingen am Anfang gezeichnete Karten in den Postumlauf, so waren es später Fotografien.
Die alten Postkarten beweisen: Man putze sich heraus für das Volksfest, spazierte im Sonntagsstaat an der Königsloge vorbei. Der Cannstatter Wasen war schon immer mehr als eine Zecherei. Er ist auch ein Jahrmarkt, ein Rummel. Und er ist ein Fitnesstraining, ja eine Kraftsportveranstaltung. Zehn gefüllte Maßkrüge müssen selbst Kellnerinnen wuchten können – dabei kommt es auf die Technik an, der Krug wiegt mehr als der Inhalt –, also insgesamt mehr als 20 Kilo.
Die jungen Herren schossen für ihre Liebsten Blumen und Bärchen, man naschte türkischen Honig, es gab in den 1950ern nur vier Bierzelte und keine Dirndl. Die Älteren verabredeten sich an der Fruchtsäule, die Jungen am Autoscooter. Bereits Ende der 1930er waren die Fahrzeuge mit den Gummistoßstangen auf den Wasen gekommen. In den 1950ern trafen sich jene dort, die man Halbstarke nannte.
Festwirt Hans-Peter Grandl, der einst in München gearbeitet hat und sich inzwischen in den Ruhestand verabschiedet hat, trug mit der Verlegerin Karin Endress maßgeblich dazu bei, dass die Lederhose und das Dirndl den Wasen von Jahr zu Jahr immer stärker erobert haben. Dass die Schwaben bayerische Traditionen übernehmen, mag er nicht hören. „Längst sind Trachten internationalisiert“, sagt er. Und es gibt auch die württembergische Tracht. Noch in den 1980er Jahren seien Leute in ihren ältesten Kleidern gekommen – heute dagegen machten sie sich schön fürs Fest. Dies habe ein „besseres Niveau“ gebracht und stifte ein Gemeinschaftsgefühl, sagt Grandl.
Wer auf einem Volksfest-Karussell seine Runden dreht, der dreht in seine Kindheit zurück. So ist ein Wasenbummel bis heute immer auch eine nostalgische Reise.
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