Im Kartenhäusle kaufte man nicht nur Karten – das Kartenhäusle war auch ein Treffpunkt. Foto: li Kraufmann

Das Häusle aus Beton bot 25 Quadratmeter Platz. Auf dem Kleinen Schlossplatz hat einst die Vorfreude auf Konzerte begonnen. Unser Stuttgart-Album erinnert an den Kartenkauf in internetlosen Zeiten.

Stuttgart - Man nannte es das „Sechs-Mädel-Haus“. Bis 1998 bestritten sechs Mitarbeiterinnen auf 25 Quadratmetern in einem Betonklotz auf dem Kleinen Schlossplatz den Vorverkauf für die meisten Konzerte in Stuttgart. Das Kartenhäusle weckt Erinnerungen an internetlose Zeiten.

„Ich glaube, hier war ich öfter als zu Hause“, verrät Martina Ma. auf der Facebook-Seite unseres Geschichtsprojekts Stuttgart-Album, „damals konnte man noch für relativ kleines Geld zu jeder Gruppe mit Rang und Namen.“ Heute müsse man sich dagegen überlegen, „ob man Kurzurlaub macht oder zwei Stunden Musik anhört“.

Im Juli 1970 schrieb ein Kommentator unserer Zeitung, dass man „trotz langer Haare“ die Jugend nicht „über einen Kamm scheren dürfe“. Die Betontreppe vor dem Kartenhäusle des Kleinen Schlossplatzes war in dieser Zeit ein beliebter Treff von „Hippies und Möchtegern-Hippies“, wie im Lokalteil damals zu lesen war. Die Sorge vieler Bürgerinnen und Bürger sei aber unbegründet, versicherte der Redakteur: „Die Langhaarigen, die sich jeden Tag im Schatten des Kartenhäusles niederlassen, sehen nicht so aus, als ob sie Passanten belästigen und Geschäftsleute bedrohen wollten.“

Seit 23 Jahren gibt es das legendäre Kartenhäusle nicht mehr – viele Karten von damals aber werden noch als Erinnerungsschätze aufbewahrt.

Unvergessen: Police, Queen, Kool an the Gang anno 82

Antonio Arnesano weiß genau, weshalb er hier zugeschlagen hat. „Police 82, Kool and The Gang 82, Queen 82, alles dort gekauft“, schreibt er im Internetforum des Stuttgart-Albums, „damals traten alle in der Böblinger Sporthalle auf.“ Und Peter Karr schreibt: „Das war meine Zeit! Zwar hatte ich wenig Geld und musste die Mark ein paarmal umdrehen, bevor sie ausgegeben wurde, aber es war trotzdem schön. Natürlich ist die Erinnerung an die Zeit, als man noch wesentlich jünger war, immer schön.“

Mitunter musste man lange am Kartenhäusle anstehen, bis man dran war. Nicht per Mausklick konnte man wie heute Konzerte aufrufen und die Karten dafür ausdrucken. Die Damen im Häusle mussten in Karteikästen und Schachteln das gewünschte Ticket suchen und herausfischen. Helga Kraft, eine gelernte Bürokauffrau, hatte 1968 die Vorverkaufsstelle auf dem ebenfalls 1968 eröffneten Kleinen Schlossplatz gepachtet. Zuvor war das Kartenhäusle als Nachkriegsprovisorium an der Ecke Königstraße/Planie gestanden.

Die Leute sprachen vom „Hippiebalkon“

Nach langem Streit war 1965 das Kronprinzenpalais abgerissen worden, damit Autos und Straßenbahnen schneller in den Westen kamen. Man hätte den einstigen Wohnsitz des Kronprinzen wieder aufbauen können. Über den Verkehrsknotenpunkt stülpten die Architekten einen Deckel, den sie „Stadtbalkon“ nannten. Manche sagten später „Hippiebalkon“ dazu.

Über Jahrzehnte hat sich die Stadt vom Planie-Durchbruch kaum erholt. Bis der Neubau des Kunstmuseums begonnen hat, sollten Provisorien die Wartezeit überbrücken. Die 1993 zur Leichtathletik-WM gebaute Freitreppe wurde zum beliebtesten Treff der Stadt. In leeren Läden auf der Betonplatte entstand mit der Bar Pauls Boutique für sieben Jahre ein Zentrum des Nachtlebens. Angefangen hat es damit, dass der spätere Wirt Klaus Morlock, heute ist er CEO einer Investment-AG in Zürich, mit einem Freund durch die Stadt lief auf der Suche nach einer Location. Auf dem Kleinen Schlossplatz legten sie eine Pause ein, auf der Treppe beim Il Mulino. Gegenüber war gerade das Kartenhäusle ausgezogen. Seine Frau Renate Morlock erinnert sich an die erste Nacht der neuen Location im Juli 1995: „Schon nach zwei Stunden mussten wir zumachen, weil wir, so naiv, wie wir waren, von den Gästen überrannt wurden und mangels Wechselgeld nicht weiter wussten.“

So stark wie Erinnerungen an die erste Liebe

Die WM der Leichtathleten 1993 war übrigens die Geburtsstunde von Easy Ticket, einer Tochter der Messegesellschaft. Noch fünf Jahre dauerte es, dann war das Kartenhäusle am Ende. Immer mehr Tickets wurden online bestellt. Die Mitgesellschafter – die Konzertdirektion SKS und die Messegesellschaft – sahen keine Zukunft mehr für den Kartenverkauf im alten Stil. Vielen wird es warm ums Herz, wenn sie die alten Fotos vom Kartenhäusle sehen. Denn Erinnerungen an die ersten Konzerte sind so stark wie Erinnerungen an die erste Liebe.

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