Auf der Grußkarte von 1902 fragen die besorgten Eltern: „Warum lässt Du den gar nichts von Dir hören?“ Foto: Sammlung Wolfgang Müller

In fast 200 Jahren hat sich auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart einiges geändert, wie die faszinierenden Karten von Wolfgang Müller zeigen.

Stuttgart - Mit Schirm, flatternden Hutbändern und sogar einem Hund rollt eine vergnügte Besuchergruppe des Cannstatter Volksfestes im grünen Wagen hoch auf der gelben Schiene. Die Postkarte mit den kräftigen Farben ist 1902 abgestempelt worden – zu einer Zeit, als man die vordere Bildseite beschrieben hat, weil die Rückseite allein der Adresse und der Briefmarke vorbehalten war.

„Warum lässt Du denn gar nichts von Dir hören?“, steht unter der lustigen Wasenszene. Die Absender geben sich wie folgt zu erkennen: „Gruss von Eltern.“ Adressiert ist die Karte an „Fräulein Hedwig Kauderer“, die damals in „Owen u. Teck“ lebte, wie auf der Rückseite unter dem Poststempel zu lesen ist. Das Töchterlein versäumt was, wollten die besorgten Eltern mit der Versendung der Volksfestzeichnung wohl sagen, wenn es nicht mal wieder in der Heimat vorbeischaut, wo gerade ausgelassen am Neckar gefeiert wird.

Lebhafte Debatte zur Kleiderfrage

Seit Jahrzehnten sammelt Wolfgang Müller, dem unser Geschichtsprojekt Stuttgart-Album zahlreiche Fotoschätze verdankt, Postkarten vergangener Zeiten. Bei ihm ist der Anteil der Wasenmotive sehr groß, weil es früher beliebt war, Grüße vom Volksfest zu versenden – so, wie man heute über Facebook seine Fotos verbreitet, auch wenn dies nun viel schneller möglich ist.

Die Freunde und Verwandten sollen Anteil nehmen, wenn man selbst eine gute Zeit hat. Gingen in den Anfangsjahren gezeichnete Karten in den Postumlauf, so waren es später Fotografien. Eine dieser Aufnahmen mit der Fruchtsäule stammt aus dem Jahr 1962. Auf der Facebook-Seite unseres Geschichtsprojekts hat sie eine lebhafte Debatte zur Kleiderfrage ausgelöst.

„Damals fielen das Volksfest und der Discounter-Fasching noch nicht auf die gleiche Zeit“, kommentiert Heike Schwarz. Uwe Neu stellt fest: „Die Fruchtsäule war nicht so überladen, da das Land noch nicht so verschwenderisch war. Die Menschen zogen sich adrett an.“ Florian Vogel bemerkt: „Man sieht, schon damals trugen die Leute Tracht. Tja, schade für alle Trachtenhasser.“ Und Hubert Polzer stellt einen weiteren Unterschied zur heutigen Zeit fest: „Niemand musste uns mit Maschinenpistolen und Panzersperren schützen.“

Der Wasen war schon immer mehr als eine Zecherei

Im Herbst 2018 ist’s genau 200 Jahre her, dass der württembergische König Wilhelm I. mit seiner Katharina das Volk erfreuen wollte. Am 28. September 1818, einen Tag nach dem 36. Geburtstag des Monarchen, ist die Fruchtsäule zum ersten Mal errichtet worden – am noch nicht aufgestauten Neckar. Man blickte von diesem Ort auf die königliche Villa Bellevue an der Wilhelma. Das Fest mit Pferderennen beschränkte sich zur Premiere auf einen Tag. Es sollen 30 000 Besucherinnen und Besucher gekommen sein – also weit mehr Menschen, als in Stuttgart und Cannstatt damals lebten.

Die alten Karten beweisen: Man machte sich schön für das Volksfest, dessen Ursprung das Landwirtschaftliche Hauptfest war, lief im Sonntagsstaat an der Königsloge vorbei. Der Wasen war schon immer mehr als eine Zecherei. Er ist auch ein Jahrmarkt, ein Rummel. Und er ist ein Fitness-Training, ja eine Kraftsportveranstaltung. Zehn gefüllte Maßkrüge müssen selbst weibliche Kellnerinnen wuchten können – dabei kommt es auf die Technik an, der Krug wiegt mehr als der Inhalt – , also mehr als 20 Kilo.

Das Cannstatter Volksfest ändert sich – und bleibt sich doch immer treu. Die Fruchtsäule war immer Mittelpunkt der Festlichkeiten. Und Zuckerwatte ist immer noch gut für nostalgische Freuden.

Diskutieren Sie mit im Netz unter www.facebook.com/Album.Stuttgart. Im Silberburg-Verlag sind zwei Bücher zu unserer Geschichtsserie erschienen.