Ausdruckstanz in den 1920ern am Teehaus im damals noch privaten und nicht öffentlich zugänglichen Weißenburgpark des Unternehmers Ernst von Sieglin. Foto: Arthur Ohler

Ein Lebensgefühl wird Trend: In der Altstadt eröffnet eine versteckte Bar im Stil der Zwanziger, das Varieté liefert eine Revue zu dieser Ära, im nächsten Jahr werden die 1920er 100. Stuttgart mischte einst beim Aufbruch heftig mit.

Stuttgart - Es war die Zeit der Avantgarde, der Provokation, der kulturellen Experimente, der Lebenslust. Nach dem Ersten Weltkrieg wollten sich die Menschen aus Not und Angst befreien. Sie suchten Zerstreuung und waren scharf auf Abenteuer. Rauschende Feste, Paillettenkleider, asymmetrische Schnitte: Die 1920er strahlen modisch bis heute aus und kehren nun heftig zurück, da erneut Zwanziger anstehen, die 2020er – 100 Jahre nach einer legendären Epoche.

Neben Berlin war Stuttgart von 1920 bis 1930 eine Hochburg der neuen Zeit. Nur einige Beispiele dafür: 1922 feierte Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ in Stuttgart Uraufführung. Die Stadt am Neckar entwickelte sich zur Automobilstadt. Schon 1924 gab es hier prozentual zur Bevölkerung mehr Kraftfahrzeuge als in Berlin. Mercedes-Benz warb mit Damen, die Bubikopf zu dunkel geschminkten Augen trugen.

Stuttgart hatte ein modernes und liberales Image

1927 ging die epochale Bauausstellung vom Weißenhof um die Welt. Und 1929 tanzte Josephine Baker mit nicht viel mehr als einem knappen Bananenröckchen im alten Friedrichsbau, was ihr andernorts untersagt wurde. Stuttgart hatte ein modernes und liberales Image. Im Sommer zog es viele in die Waldheime, die Arbeitervereine errichtet hatten. Ein beliebter Treffpunkt der Nacht war das Excelsior an der Ecke Büchsen- und Schlossstraße. Die junge Lale Andersen sang an diesem Ort Seemannslieder. Joachim Ringelnatz rezitierte im Matrosenanzug anstößige Gedichte. Im Sommer war die Weinstube am See im Stadtgarten überfüllt oder das Café Fürstenhöfle am Wilhelmsplatz. Im Kunstgebäude spielten Kapellen zum Fünf-Uhr-Tee. Im Café des Hotels Marquardt trafen sich selbstbewusst „Homoeroten“, für Stuttgart gab’s einen schwul-lesbischen Stadtplan. Das größte Café im Hindenburgbau dehnte sich über drei Stockwerke aus, bis zu 1000 Menschen fanden hier Platz.

Nacktheit wurde zur Rebellion

Das dominierende Medium war die Tageszeitung. Es gab in Stuttgart 20 Zeitungen, jede Weltanschauung hatte ihr eigenes Blatt. 1928 ist der Tagblatt-Turm mit 18 Etagen eröffnet worden, das erste Hochhaus der Welt in Sichtbetonbauweise, eines der bedeutendsten Architekturdenkmale des Neuen Bauens, inspiriert vom Chicago Tribune Tower. Stuttgart war eben auch in der Architektur eine experimentierfreudige Stadt.

Der Hauptbahnhof von Bonatz ist 1922 eröffnet worden. Aus den 1920ern stammt die hölzerne Standseilbahn, die von Heslach hoch zum Waldfriedhof zuckelt. Nacktheit wurde in dieser pulsierenden Zeit zur Rebellion. Das Teehaus war ein Experimentierfeld des Ausdruckstanzes. Der Kunstmäzen Ernst von Sieglin, der sein Geld mit der Herstellung von Seifenpulver verdiente, lud Tänzer ein, in dem damals noch nicht öffentlich zugänglichen Weißenburgpark mit dem Einsatz eines spärlich bekleideten Körpers ihre Gefühlswelt zu erkunden und darzustellen.

Die 1920er kommen ganz groß raus zum Jubiläumsbeginn im neuen Jahr. In Stuttgart wird das Lebensgefühl dieser legendären Ära schon jetzt an vielen Orten zelebriert: etwa mit der neuen Flüsterbar im Rotlichtviertel, die Ende der Woche startet, sowie mit der glamourösen Show „1925 – die 20er-Revue“, die am 14. November Premiere im Friedrichsbau-Varieté feiert. Der Charme einer goldenen Ära kehrt geballt zurück. Und keiner weiß, wie die neuen Zwanziger von 2020 bis 2030 die Menschheit aufrütteln werden.

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