1996 verschwanden zwei Buchstaben an der Fassade beim Denker: Aus Radio-Barth wurde am Rotebühlplatz die Radio-Bar. Foto: Archiv/Lahoti_Krishna

Nicht erst seit dem Penthouse und dem Studio Amore sind in Stuttgart Locations in der Zwischennutzung Hits der Nacht. Erinnerungen an die Radio Bar im Radio-Barth-Gebäude und an das Zapata im Südmilchareal – an temporäre Legenden des Partylebens.

In der Radio Bar hat Thomas Tuchel, zuletzt Trainer von FC Chelsea, gejobbt, um sein Studium zu finanzieren. Zwischen 1996 und 2000 ging’s im ehemaligen Radio-Barth-Haus am Rotebühlplatz hoch her. Ein paar clevere Typen hatten zwei Buchstaben des Firmenschildes Radio Barth abgeschraubt – so begann der Aufstieg einer Location, die für vier schnelle Jahre den Takt im Stuttgarter Nachtleben vorgeben sollte.

Einer der abschraubenden Typen war Carlos Coelho. Der Höhepunkt in der relativ kurzen, aber intensiven Radio-Bar-Zeit war für ihn die Nacht vor der Sonnenfinsternis im Jahr 1999. „Die schiere Menge an Menschen hat uns einfach leer getrunken“, erinnert sich der Wirt.

Ein Glücksfall für aufstrebende Gründer war der Leerstand im Radio-Barth-Haus

Nicht wenige, weiß Carlos Coelho, kannten das ehemalige Radio-Barth-Gebäude, in dem sie nun feierten, aus ihrer Kindheit recht gut. In einem Film über diese Zeit bringt er es auf den Punkt: „Dort, wo sie einst an ihre Blockflöten kamen, hatten sie nun Sex auf dem Klo.“

Ein Glücksfall für ehrgeizige und aufstrebende Gründer war der Leerstand des Radio-Barth-Hauses. Nach der Insolvenz des 1878 gegründeten Musikhauses, das 1966 den Neubau am Rotebühlplatz bezogen hatte, wusste niemand, was aus dem wuchtigen Klotz mit dem groben Waschbeton werden sollte. Für eine ganze Generation befand sich hier das Tor zu einer neuen, verheißungsvollen Welt aus Pop und Rock. Bevor Investoren zuschlagen konnten, ließ die Stadt junge Firmen wie das 0711-Büro, die Kolchose und die Modelagentur Brody für wenig Mietgeld einziehen. Der deutsche HipHop hatte einen neuen Mittelpunkt. Im Erdgeschoss befand sich die Radio Bar, darüber machten junge Startups ihre Geschäfte. Der kreative Schub endete im Jahr 2000, als der Abriss eines Gebäudes begann, das nicht zu den architektonischen Glanzpunkten der Stadt zählte, aber trotzdem noch heute von vielen vermisst wird – wegen seiner inneren Werte.

„Das Zapata war ein Ort von knisternden Erotik“

Noch eine originelle Gastro-Idee des alten Jahrtausends trug den Namen Zapata, benannt nach dem mexikanischen Revolutionär. „Das Zapata war ein Ort von knisternder Erotik, auf der Suche nach sozialer Emanzipation.“ So hat der Ur-Grüne Rezzo Schlauch einmal den 1994 eröffneten Latino-Club beschrieben, dessen Stammgast er war. Für die wohl größte Nachtwanderung in der Geschichte der Stadt sorgte der Treff in einer zum Abriss freigegebenen Fabrik im Südmilchareal. Postkarten dienten als Währung, mit der man seine Caipis bezahlte – ein Trick, weil zunächst die Konzession fehlte. Mit den Einnahmen wurden Künstler unterstützt. Im Zapata hatten viele Stuttgarterinnen und Stuttgarter den Caipirinha kennengelernt, den es Jahre später bei jedem Stadtfest geben sollte.

Rezzo Schlauch brachte Joschka Fischer mit

Der Schauspieler Ben Becker war häufig da, auch Moderator Alfred Biolek. Immer mal wieder brachte Rezzo Schlauch einen Partyfreund mit: Joschka Fischer, der spätere Außenminister, fühlte sich wohl im Künstlerkollektiv unweit des Hauptbahnhofs,wo man freiheitliches Denken, rebellischen Geist und gemeinschaftliches Arbeiten leben wollte. Jahre später gab’s ein Wiedersehen. Marcelo Lagos, Mitgründer eines gastronomischen Phänomens und einer künstlerischen Selbsthilfe, war nach dem Abriss des ersten Zapata (später gab es eine Fortsetzung mit demselben Namen ohne ihn im Wizemann-Areal) nach Berlin gezogen. Dort wurde er Fischers Nachbar.

1995 machte die Abrissbirne ein rebellisches Experiment platt

Ende der 1970er Jahre war Marcelo Lagos vor dem Diktator Pinochet geflohen. Zwei Jahre saß er in Argentinien im Gefängnis. Gestrandet ist er im Süden Deutschlands. 1994 drehte er seinen Film „Stuttgart – mi amor“, eine poetische Stummfilmreise in Schwarzweiß. Das Team streifte mit der Kamera auf der Suche nach magischen Locations durch die Stadt und entdeckte im Niemandsland hinterm Hauptbahnhof eine leerstehende Fabrik. Aus dem Zusammensitzen nach Drehschluss in der „Nordbronx“, wie der 1956 geborene Lagos den Ort nannte, wurde immer mehr. Es entstand ein gastronomisches Phänomen. Bereits 1995 machte die Abrissbirne dieses rebellische Experiment platt. Viva Zapata! Stammgast Rezzo Schlauch hat in Havanna gesagt, als dort der Film „Stuttgart mi amor“ vorgeführt wurde: „Das Zapata wirkt noch in Stuttgart, auch wenn es abgerissen ist.“

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