Der Film „Dein Mann – das unbekannte Wesen“ von Oswald Kolle lief 1970 an Foto: dpa

Es liefen Filme wie „Schatz am Silbersee“, „Hair“ oder „Dein Mann – das unbekannte Wesen“. Vorstadtkinos waren für viele die erste Begegnung mit den Fantasien des Films. Wir erinnern an Zeiten, als der Eintritt 80 Pfennig betrug und man dicht an dicht saß.

Stuttgart - Es liefen Filme wie „Schatz am Silbersee“, „Hair“ oder „Dein Mann – das unbekannte Wesen“. Vorstadtkinos waren für viele die erste Begegnung mit den Fantasien des Films. Wir erinnern an Zeiten, als der Eintritt 80 Pfennig betrug und man dicht an dicht saß.

So wie heutzutage immer mehr Lebensmittelläden in den Außenbezirken verschwinden, so ist in den 1980ern ein Vorstadtkino nach dem anderen gestorben. Nur einige Beispiele: Das Gloria in Möhringen hat sich 1984 für immer verabschiedet, mit dem Palette-Filmtheater in Feuerbach war’s 1982 vorbei, die Ostend-Lichtspiele mussten 1980 nach 69 Jahren aufgeben.

„Ein Vorstadtkino“, so heißt es im Duden, „ist ein kleines, in der Vorstadt gelegenes, nicht sehr bedeutendes Kino.“

Nicht sehr bedeutend? Von wegen! Ohne sein Vorstadtkino in Sindelfingen, in dem er etwa „Schatz am Silbersee“ angeschaut hat, sagte Hollywood-Star Roland Emmerich einmal, wäre er niemals Regisseur geworden. Und wie erst die Kommentatoren auf der Facebook-Seite unseres Geschichtsprojekts Stuttgart-Album von ihren ersten Begegnungen mit der schönen, bunten Filmwelt schwärmen! Die erste Küsse schmecken halt ganz besonders – die vergisst man nie.

Claus Bahr etwa schreibt über „seine“ Ostend-Lichtspiele: „Dort habe ich die Bruce-Lee-Filme angeschaut und auf dem Nachhauseweg die Straßenlaternen mit dem Fuß ausgekickt.“ Bei Dietrich Haaf ist’s im Gloria in Möhringen passiert: „Ich begegnete dort Winnetou und war tief beeindruckt von der Old-Shatterhand-Melodie, frühestes Kinoerlebnis, in Farbe, Breitwand!“ Und Thomas Zeller kann nach vielen Jahren – die Straftat ist längst verjährt – beichten, dass er sich im Kino in Leinfelden den „Schulmädchen-Report“ angesehen hat, obwohl er noch keine 18 Jahre alt war.

Wie die Folge hieß, weiß er nicht mehr, doch eine Szene hat er nicht vergessen: „Die Schulmädchen besichtigten ein Kraftwerk. Sie trugen kurze Röcke und quiekten, als sie sahen, wie sich die dicken Kolben der Maschinen bewegten. Plötzlich fiel der Lehrerin auf, dass Monika fehlte. ,Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen’, sagte sie. Bildschnitt. Nun sah man, wie sich Monika gerade von einem hinterwäldlerischen Busfahrer auf der Rückbank des Busses verführen ließ. Ja, so waren die Mädels damals halt.“

Ohne die Aufklärung von Oswald Kolle hätten die Vorstadtkinos vielleicht noch früher aufgeben müssen. Über den Film „Dein Mann – das unbekannte Wesen“, der 1970 herauskam, ist damals heftig diskutiert worden. „Herr Kolle“, schrieb ein Zuschauer dem Autor, „wollen Sie die Welt auf den Kopf stellen?“ Von dem Film ging seiner Meinung nach eine gefährliche Botschaft aus: „Jetzt sollen die Frauen oben liegen!“

Warum die Vorstadtkinos keine Chance hatten, belegen diese Zahlen: 1957 sind in den deutschen Kinos etwa 800 Millionen Zuschauer gezählt worden. 1968 waren es nur noch 180 Millionen. Auf der anderen Seite stieg die Zahl der Fernsehgeräte von 700 000 (1956) auf 7,2 Millionen (1962). Klarer Sieg für die Mattscheibe daheim!

Als in Stuttgart die cineastische Nahversorgung gesichert war, liefen in den Vorstädten die Filme etwas später als in den Innenstädten – mit nicht mehr ganz so frischen Kopien, die rauschten und deren Farben schon etwas verblichen waren. Dafür waren die Preise günstiger, und man musste nicht mit der Straßenbahn in die Stadt fahren.

Im heutigen Restaurant Hexle in Möhringen befanden sich von 1954 bis 1984 die Gloria-Lichtspiele. Werner Dietz hatte nach dem Krieg von Amerikanern einen transportablen Filmprojektor gekauft und zunächst in Gaststätten Filme gezeigt. Sein Wanderkino kam gut an. 1954 eröffnete er dann in Möhringen das Gloria-Kino mit 460 Sitzplätzen. Der Eintritt damals: 20 Pfennig für Kinder, 80 Pfennig für Erwachsene.

Als die Besucherzahlen mit der Zeit zurückgingen, baute sich Dietz eine zweite Existenz auf. Weil viele Filmvertreter nicht wussten, wo sie übernachten sollten, eröffnete der Geschäftsmann 1966 angrenzend ein Hotel, das er wie das Kino Gloria taufte. 1984 wurde das Kino geschlossen und in den Räumen ein Restaurant eröffnet, das heute von Evelyn Kraft, der Tochter von Werner Dietz, geleitet wird. Sie erinnert sich: „Der Andrang war so groß, dass wir manchmal Stühle aus unserer Wohnung ins Kino tragen mussten.“ Und Beate Günther-Hühn fällt ein, wie sie auf unserer Facebook-Seite schreibt, dass es bei Kinderfesten einen Kinogutschein fürs Gloria gab: „Das war nicht so cool wie Jesus Christ und Co., aber die Lümmels aus der ersten Bank und die Friede-Freude-Eierkuchen-Filme mit Roy Black fand ich trotzdem spitze.“

In der Feuerbacher Palette lief der letzte Film im April 1982. Der Kinosaal mit 254 Sitzplätzen war mal eine Gaststätte mit Bierkeller und galt nach dem Umbau als Musterbeispiel für technische Neuerungen. Im Stuttgarter Osten gab es einst drei Filmtheater. 1980, als beim Ostendplatz ein letztes Mal „Vom Winde verweht“ lief, schrieb die Branchenzeitschrift „Das Filmtheater“: „Das Ostend-Kino, die späteren Ostend-Lichtspiele, im Volksmund auch liebevoll ‚Floh-Kino‘ genannt, ist tot: 1911 eröffnet, musste jetzt die 74 Jahre alte Besitzerin Annegret Steeb ihr Lichtspielhaus schließen. 1926, Annegret Steeb war 20, übernahm ihre Mutter, Anne Meister, das Kino. Annegret Steeb erinnert sich noch gut an die Stummfilmzeit, an die Tom-Mix-Filme mit ihren zig Fortsetzungen, an Harry Piehl, an ihre Kinomusikanten, einen Klavierspieler und einen Geiger. Sie erinnert sich auch noch gut an die damaligen Eintrittspreise von 20 bis 50 Pfennig. Schüler, Arbeitslose, Militär und Rentner zahlten die Hälfte.“

Mit dem Boom der Videokassette in den 1980ern war’s endgültig vorbei mit dem Kinovergnügen in den Vorstädten. Überlebt haben lediglich die Kinothek in Untertürkheim mit einem ambitionierten Programm und das Corso in Vaihingen, das sich auf Filme in der Originalfassung spezialisiert hat.

Am Ende hat es die Videotheken, die den Vorstadtkinos die Kunden wegnahmen, selbst erwischt, besiegt vom bequemen Downloaden der Filme im Internet. Eine Frage kann heute keiner beantworten: Wird es für das Internet eines fernen Tages auch einen natürlichen Feind geben?

Vom Stuttgart-Album gibt es im Silberburg-Verlag zwei Bücher. Schicken Sie historische Fotos an: info@stuttgart-album.de. Diskutieren Sie mit unter: www.facebook.com/Album-Stuttgart.