Einst war Breitling gar nicht in der Pole Position auf dem Marktplatz, davor befand sich das Damenmodegeschäft Spiecker. Foto: Sammlung WIbke Wieczorek

Die Nachricht vom Ende des Herrenausstatters Breitling nach 71 Jahren bewegt die Stadt. Von Barth bis Haufler, von der Lerche bis Juwelier Kurtz – viele Traditionsgeschäfte werden bis heute vermisst. Wir erinnern an große Namen.

Stuttgart - Eine Tradition hat immer etwas mit Erinnerung zu tun. Wenn ein Geschäft schließt, das man ein Traditionshaus nennt, fühlt es sich oft an, als würde man ein Stück seiner Kindheit oder Jugend verlieren. Deshalb geht es vielen Menschen nahe, wenn ein bekannter Markenname aus dem Stadtbild verschwindet. Die Liste der Traditionsgeschäfte ist lang, die in Stuttgart aufgeben mussten. Entweder war ihre Zeit vorbei, die Konkurrenz zu groß, der Online-Handel zu stark oder eine internationale Kette hat dem über Generationen geführten Familienbetrieb keine Chance mehr gelassen. 

Die Nachricht vom Ende des Herrenausstatters Breitling nach 71 Jahren am Marktplatz bewegt die Stadt. „Die Corona-Pandemie hat uns den Rest gegeben“, hat Inhaberin Mirella Breitling unserer Zeitung gesagt. Viele Stuttgarter erinnern sich gern daran zurück, was sie bei Breitling eingekauft haben. „Sehr traurig“, schreibt Oliver W Glaser-Gallion im Facebook-Forum unseres Stuttgart-Albums, „vor 40 Jahren kam ich bei Herrn Breitling zu meinem Konfirmationsanzug.“  Bei Mark Terrenzi war’s  der Hochzeitsanzug.  Er schreibt: „In 40 Jahren wurde ich noch nie so kompetent beraten wie da.“ Joachim Wittek  kommentiert: „Breitling kann nicht davon leben,wenn man nur alle Jubeljahre mal dort einkauft.“ Und Ramona Becken findet es „sehr schade, dass so viele wichtige und alteingesessen Geschäfte schließen“. Traurig ist sie auch über die Verkleinerung von Spielwaren Kurtz am Marktplatz: „Wie viele Stunden habe ich in meiner Kindheit dort verbracht?“

Vor dem Breitling befand sich das Modehaus Spiecker

Auf Fotos aus den 1960er Jahren sieht man, dass gar nicht Breitling die Pole Position auf dem Marktplatz eingenommen hat. Davor befand sich ein weiteres Modegeschäft – nämlich Spiecker. Beim Umbau des Marktplatzes im Jahr 1974 wurde das vordere Gebäude abgerissen für die Rückkehr des Marktplatzbrunnens vom Wilhelmsplatz und für eine größere Freifläche vor dem Rathaus. Breitling konnte sich gleichzeitig vergrößern.  Spiecker zog in das Haus von Hugendubel einige Schritte weiter.

Das Modehaus Spiecker ist 1936 zu diesen Namen gekommen. Der Vorbesitzer Albert Landauer war Jude. Er wanderte mit seiner Frau und drei Kindern nach England aus, um der Verfolgung durch das NS-Regime zu entgehen. Walther Spiecker übernahm sein Geschäft am Marktplatz. Mit Verkäufen weit unter dem Wert versuchten viele Juden zwischen 1936 und 1938, wenigstens noch Mittel für die Ausreise auf die Hand zu bekommen, um der entschädigungslosen Enteignung und der Einweisung in ein Konzentrationslager zu entgehen.

„Die Jungen brauchen uns nicht – sie kaufen im Internet ein“

Der Marktplatz ist ein Ort des Wandels. Direkt gegenüber von  Breitling hat  Haufler Anfang 2015 nach 120 Jahren für immer geschlossen.„Die Generation 40-Plus und die alteingesessenen Stuttgarter bedauern unseren Weggang sehr“, sagte damals Geschäftsführerin Christiane Haufler-Becker, „aber die Jungen brauchen uns nicht mehr. Die kaufen im Internet ein.“

In der City mussten in den vergangenen Jahren zahlreiche Fachgeschäfte unter dem Druck des harten Wettbewerbs aufhören. Eine Legende trat 1995 ab: Das 1878 gegründete Musikhaus Radio Barth  musste Insolvenz anmelden. Ende 2003 schloss Juwelier Kurtz, das seit 1886 vor allem  für Hochzeitsringe bekannt war.

Noch mehr klangvolle Namen sind verschwunden: Radio Knörzer, Knagge und Peitz, Hugendubel, May &Edlich, Sport Endress, Lederwaren Waldbauer, Hirrlinger, das Teppichhaus Orient-Dayss, Foto Weizsäcker, Schuh Schöpp, Zahn und Nopper, Nanz, Weise’s Hofbuchhandlung, Hanke &Kurtz, Hetzel-Reisen, Elektro-Ziegler, das Modehaus Fischer und und und.

Die erste Lerche wurde 1959 eröffnet

Auch die Lerche singt nicht mehr. Die Lerche hat Generationen  von Stuttgartern geprägt. Viele haben dort große Teile ihres Taschengeldes abgeliefert. Es gab sogar drei Lerchen auf der Königstraße. Das Internet stürzte die Musikindustrie von einer Revolution zur nächsten, was am Ende auch die Lerche verstummen ließ. 2004 musste das einstmals größte Radio- und Fotohaus Süddeutschlands für immer schließen. Der Preiskampf gegen die Branchenriesen und Mediamärkte war endgültig verloren.

1959 hatte Albert Armin Lerche – zuvor war er Geschäftsführer des EM-Filmtheaters – den Plattenladen eröffnet. Schon wenige Jahre später wurde aus der Lerche eine Institution mit drei Standorten an der Königstraße. Ohne Klimaanlage liefen im Sommer mit den Plattenspielern die Menschen heiß.

Koelbe & Brunotte ist 1882 gegründet worden

Es war die Zeit, als der Einzelhandel auf der teuersten Meile der Stadt noch familiengeführt Gewinne abwarf. Heute machen die Ketten das Geschäft unter sich aus – mit uniformierten Läden, die überall gleich sind. Würde jemand vom Himmel in eine Fußgängerzone fallen, er wüsste nicht, in welcher Stadt er wäre.

Deshalb sind individuelle Geschäfte so wichtig, weil sie einer Stadt Charakter geben. Doch davon gibt es immer weniger in Stuttgart. Eines der letzten Bollwerke in der Abwehr der großen Ketten ist die 1882 gegründeten Modefirma Koelble & Brunotte an der Königstraße, die noch immer vom Inhaber geführt wird. Im damaligen Hotel Marquardt befand sich lange Zeit das Geschäft, das im April 2019 Marco Mangold übernommen hat. Vorbesitzerin Herta Kächele hatte Koelbe & Brunotte in Stuttgart 63 Jahre lang geführt. Es schien, als könne sie keinen Nachfolger finden. Deshalb hatte sie alle Verträge und allen Mitarbeitern gekündigt, als sich Mangold entschloss, das Risiko einzugehen und mit Geld von der Bank einen der letzten kleinen inhabergeführten Modehäuser an der Königstraße zu kaufen.

Ein bisschen ist es wie im Asterix-Heft, wo sich ein kleines gallisches Dorf gegen die Invasion der starken Römer wehrt. Ohne Unterstützung der Verbraucher haben die Kleinen keine Chance. Deshalb entscheiden letztendlich die Konsumenten, ob Traditionsgeschäfte überleben.