„Rettet das Leonhardsviertel!“ Schon vor über 30 Jahren hingen Transparente mit Aufschriften wie dieser über den Altstadtgassen. Jetzt gibt es neue Versuche, den Niedergang aufzuhalten. Das Stuttgart-Album beleuchtet die Geschichte des Sexbezirks, dessen Happy End noch lange nicht in Sicht ist. Impressionen aus dem Leonhardsviertel gibt's in unserer Bildergalerie.
Stuttgart - Die romantische Verklärung eines Rotlichtviertels beginnt, wenn man eine Prostituierte „Liebesdienerin“ nennt.
Mit Liebe hat ihre Arbeit meist wenig zu tun. Im Stuttgarter „Amtsblatt“ ist im Jahr 1956 die raue Wirklichkeit wohl ein bisschen schöngeschrieben worden. „Obwohl das Meer und die Reeperbahn weit weg sind“, war da zu lesen, „bekam die Leonhardstraße etwas von der Stimmung St. Paulis.“
Doch es war noch die Zeit, als Handwerksbetriebe und Mostwirtschaften ein nachbarschaftliches Verhältnis zum Milieu pflegten, als man sie noch nicht aus den ältesten, erhaltenen Gassen der Stadt vertrieben hatte. Nach und nach hatten sie gegen Menschenhandel und Zuhälterei keine Chancen, weil es aus dem Rathaus keine Hilfe gab.
Hält die Szene den Zerfall auf?
Kann ein buntes Miteinander wie einst das Quartier retten? Hält die Szene den Zerfall auf? Ein langsam wachsendes Gewicht gegen das Elend der Prostituierten, gegen den Niedergang einer schützenswerten Architektur könnten die coolen Bars sein, die sich hier zum Sexgewerbe ansiedeln – etwa das Paul & George an der Weberstraße. OB Fritz Kuhn hat das Leonhardsviertel zur Chefsache erklärt. Er will die Immobilienpolitik des Rathauses nun endlich ändern.
Über Jahrzehnte schien es die Politik nicht sonderlich zu interessieren, wie das Viertel mit seiner historischen Bausubstanz heruntergewirtschaftet worden ist. Während bis 2011 städtischer Streubesitz am liebsten verkauft wurde, will die Verwaltung in der Altstadt künftig verstärkt als Käufer auftreten. Wohnen und milieufremde Gaststätten sollen gefördert werden.
Noch ist die Skepsis bei Anwohnern groß. „Anstatt mit den Hausbesitzern zu sprechen, verstecken sich die Vertreter der Stadt hinter Rechtsanwälten“, ist zu hören. Gelder, die zur Sanierung und Renovierung vorgesehen waren, müssten für Anwälte ausgegeben werden.
Kann Stuttgart so verrucht sein?
Erst nach dem Krieg ist das rote Licht im Leonhardsviertel aufgegangen. In den Ruinen rund um die Leonhardskirche hatte sich das, was man das älteste Gewerbe nennt, breitgemacht. Kann Stuttgart so verrucht sein?
Die Stadt war ein Trümmerfeld, eine Ansammlung an Behelfsläden und Behelfswohnungen – und auch die Luden und Altstadtwirte wussten, wie man sich behilft. Als Vereinigte Hüttenwerke zogen sie wie bei einer Kirmes ihre provisorischen Bauten hoch oder mieteten sich in den alten, erhalten Häusern an der Leonhardstraße ein.
Lange bevor die Stadtautobahn das Viertel teilte und auseinanderriss, war der Leonhardsplatz bei der Leonhardskirche ein echter Platz. Bis 1910 fand hier, wie in alten Dokumenten nachzulesen ist, der „Krempelesmarkt“ statt, eine Art Flohmarkt. Die Marktbuden waren an die Friedhofsmauern gebaut – 1799 hatte man den Friedhof, der sich an dieser Stelle befand, geschlossen.
Am Leonhardsplatz versammelten sich frühmorgens Tagelöhner auf der Suche nach Arbeit – man nannte sie „Leonhardsschlamper“. 1912 ist auf dem Platz das Gustav-Siegle-Haus eröffnet worden. Eine nach dem Farbenfabrikanten mit ebendiesem Namen benannte Stiftung hatte das Haus von Theodor Fischer erbauen lassen, um „den Angehörigen der weitesten Kreise des Volkes den Zugang zu gediegener Bildung des Geistes und des Herzens zu erleichtern und zu eröffnen“.
1977 spielten AC/DC im Gustav-Siegle-Haus
Jahre später waren die Kreise des Volkes noch nicht so groß, die AC/DC später mal erreichen sollte – nur 800 Besucher versammelten sich, als die australische Band 1977 das Sieglehaus rockte. Fürs Viertel ist dies bis heute ein legendäres Ereignis. Die Halle wird heute öffentlich nicht mehr bespielt.
An das 1930 eröffnete und 1990 geschlossene Leonhardsbad erinnern sich etliche Besucher auf der Facebook-Seite des Stuttgart-Albums. „Meine Mutter nahm uns vier Kinder Ende der 1960er mangels einer eigenen Wanne jede Woche zu den Zinkwannen des Leonhardsbad mit“, schreibt Frank Wildermuth.
Wie kann man das Leonhardsviertel retten?
Manuel Knatterflatter, der auf der Internetseite unseres Geschichtsprojekts das Foto mit dem Protest von 1983 gesehen hat, findet: „Es wäre wieder an der Zeit für ein paar Transparente.“ Wie das Leonhardsviertel gerettet werden kann?
Dirk Wein schreibt: „Genauso wie das Bohnenviertel in den 1980ern und 1990ern. Das war in einem noch schlechteren Zustand als das Leonhardsviertel heute.“ Stefan Heinrichs bleibt skeptisch: „Wenn die Stadt in jedem Haus, das sie kauft, irgendeine ,Beratungsstelle‘ eröffnet – dann ist das Viertel auch tot.“
Im Silberburg-Verlag sind zwei Bücher zu unserem Geschichtsprojekt Stuttgart-Album erschienen. Diskutieren Sie mit unter www.facebook.com/Album.Stuttgart