Horst-Peter und Marlies Meyer in ihrem Wintergarten mit Blick auf den Stuttgarter Hauptbahnhof. Quelle: Unbekannt

Herbst 2012 soll der Tunnelbau für S21 starten. Wohnungseigentümer sind schon jetzt betroffen.

Stuttgart 21 - Im Herbst 2012 will die Bahn beim Projekt Stuttgart 21 in die Tiefe gehen. Dann startet der Tunnelbau. Von den Röhren sind Wohnungseigentümer aber schon jetzt betroffen. Sie können ihre Immobilie nur mit heftigen Abschlägen verkaufen - wenn überhaupt.

Der Blick auf Bahnhof und Park ist herrlich, die Lage traumhaft. Vom verglasten Balkon des gepflegten Altbaus aus liegt Marlies und Horst-Peter Meyer die Stadt zu Füßen. Vor 22 Jahren hat das Ehepaar sich seinen Wohntraum in der Urbanstraße erfüllt und abgestottert: 126Quadratmeter, 3,20 Meter Deckenhöhe. 60 Stufen führen in den dritten Stock des Hauses Nummer 49. Nach dem Krieg war es auf den alten Grundmauern wieder aufgebaut worden. Die Immobilie mit zehn Parteien ist innen wie außen gepflegt. Meyers haben ihre Wohnung geschmackvoll eingerichtet, neues Parkett deckt die Böden.

Doch der Wohntraum entwickelt sich für das Paar zum Albtraum. Stuttgart 21 lässt grüßen: Direkt unter dem Haus wird eine der beiden Röhren vom Hauptbahnhof zum Flughafen gegraben werden. Zwischen Tunneldecke und Kellerboden bleiben gerade mal neun Meter. Die Grabung gerät bei diesen Maßen zum Vabanquespiel. Die Baugenehmigung von 2005 vermerkt eine ingenieurtechnische Herausforderung: "Um die für die Bebauung unverträglichen Setzungen und Schiefstellungen auszugleichen, sind in diesem Bereich Hebungsinjektionen vorgesehen."

Wohnung praktisch unverkäuflich

Ob der Altbau das Auf und Ab durch druckvoll ins Erdreich gepressten Beton übersteht, kann heute keiner sagen. Ob Meyers im Haus bleiben können, während unten der Bagger wühlt, auch nicht. "Der Berg hier ist nicht der stabilste", sagt Meyer. Der 71-jährige Ingenieur und seine 67-jährige Frau wollen die Bauphase nicht abwarten. Sie suchen schon länger eine altengerechte Bleibe. "Noch sind wir fit, aber man weiß nie", sagt er. "Wir wollen uns verkleinern", ergänzt Marlies Meyer. Ohne den Verkauf der alten Wohnung geht das nicht.

Doch angesichts der nahenden Mega-Baustelle sind die vier Wände praktisch unverkäuflich. "30 Prozent Abschlag, mindestens, wenn sich überhaupt jemand findet, das sagte uns ein Makler", berichtet Meyer. "Der Wertverlust wäre enorm." Hilfesuchend haben sie sich an die Bürgerbeauftragte der Stadt im Stuttgart-21-Sprecherbüro gewandt. Die Bitte: Die Bahn solle kaufen. Aus dem Büro kam Kanzleitrost. "Wir bekommen nur ausweichende Stellungnahmen, sind frustriert", ärgert sich Meyer.

Metallmodelle alter Loks schmücken das Wohnzimmer des Ingenieurs. Dessen Sympathie für das Unternehmen Bahn ist aufgebraucht. "Wenn man so betroffen ist, ist man nicht begeistert vom Projekt", bekennt er.

"Bei Stuttgart 21 gibt es Härtefälle"

Die Ruheständler haben ihre Mitgliedschaft im Haus- und Grundbesitzerverein genutzt und Unterstützung erbeten. "Unsere Befürchtungen sind eingetreten, bei Stuttgart 21 gibt es Härtefälle", sagt dessen Geschäftsführer Ulrich Wecker.

Seit die Baugenehmigung der Bahn gelte, "ist die Wohnung unverkäuflich", so der gelernte Jurist. Der Fall zeige, dass "die Enteignung für das Ehepaar wirtschaftlich gesehen schon jetzt da ist, ohne dass es eine Entschädigung erhalten hat".

Auch der Verein Haus und Grund Stuttgart, der 19.000 Mitglieder vertritt, hat bei der Bahn zur Sache angefragt. Nach einem Vierteljahr habe das Unternehmen mitgeteilt, dass erst nach Fertigstellung der Tunnelrohbauarbeiten klar sein werde, ob das Haus Urbanstraße 49 betroffen ist. Damit könne man nicht zufrieden sein, sagt Wecker: "Für das Paar wäre es der Supergau, wenn es sich innerhalb kurzer Zeit eine neue Bleibe suchen müsste."

Keine Beweissicherung für Gebäude Urbanstraße 49

Der Fall macht für Wecker deutlich, dass für das Tiefbahnhof-Projekt eine Klärungsstelle eingerichtet werden muss, die "entscheiden kann und über einen ausreichend dotierten Sonderfonds verfügt". Bahn-Chef Rüdiger Grube hat diese Forderung im Dezember 2010 abgelehnt - man habe bei anderen Baumaßnahmen alle Fragen ohne Sonderfonds und Klärungsstelle regeln können. "Unser Fall hier spricht für das Gegenteil", sagt Wecker, "wir liegen völlig richtig." Die Bahn wolle "offensichtlich das Problem der betroffenen Bürger nicht erkennen. Das Ehepaar wäre für viele Jahre Gefangener des eigenen Objekts. Das ist nicht hinnehmbar."

Wecker nimmt an, dass es ein ähnliches Problem bei sechs bis acht Mehrfamilienhäusern über den Tunneln geben könnte. Im Haus direkt neben dem von Meyers hat die Bahn vor Jahren alle Wohnungen aufgekauft, direkt daneben, an der Sängerstaffel, genauso. Dort soll sogar abgebrochen werden. "Die Bahn könnte sich verpflichten, weitere Wohnungen zu kaufen. Wenn sie unbeschadet bleiben, kann sie später wieder veräußern", schlägt Wecker vor. Die begehrte Lage werde schließlich bleiben.

Die Bahn hat eine Änderung der bisherigen Baugenehmigung für den Fildertunnel beantragt. Als direkt betroffene Anwohner könnten Meyers daher nun Einwände geltend machen und sogar gegen die Bahn klagen. Doch das Paar ist verunsichert. Vor Wochen teilte die Landsiedlung mit, dass es für das Gebäude Urbanstraße 49 keine Beweissicherung gibt, der jetzige Zustand und Schäden also gar nicht erfasst würden. Ein Irrtum, der sich aufklärte. "Wir wollen nicht vor Gericht gehen, so ein Prozess würde doch Jahre dauern", hofft Marlies Meyer auf eine Einigung. Ihr Mann ist skeptisch.