Guck mal, wie ich mich ehrlich mach: Ronald Pofalla (links) und Fritz Kuhn. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Als Bürger sollten wir endlich so handeln wie die Bahn: offen zugeben, wenn wir später fertig werden und mehr Geld ausgeben als geplant. Das befreit ungemein, meint unser Lokalchef Holger Gayer.

Stuttgart - Als Kurt Biedenkopf im Oktober 1992 zur Generalabrechnung ansetzte, ahnte er wohl kaum, dass er damit gut 25 Jahre später in der Zentrale der Deutschen Bahn in Berlin eine Revolution auslösen würde. „Und dann sollte man die Sache ehrlich machen“, sagte der damalige Ministerpräsident des Freistaats Sachsen seinerzeit in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung. Ja, ganz im Ernst, ein Politiker, noch dazu einer der CDU, sagte: „Und dann sollte man die Sache ehrlich machen.“ Es ging allerdings nicht um Stuttgart 21, sondern um die Nachwehen der deutschen Einheit, den Soli, die Frage, wie man mit den vielen Flüchtlingen umgehen sollte, die scheinbar ungehindert nach Deutschland kamen, und um Helmut Kohl. Dazu dann dieser Satz: Man solle die Sache ehrlich machen. Was für eine Aussage!

 

Aufmerksame Germanisten könnten allerdings einwenden, dass der Gebrauch des Singulars in diesem Fall falsch sei. Es geht nicht nur um eine Sache, sondern um alle, also um die Politik als Ganzes. Stimmt! Biedenkopfs Erben haben das längst erkannt, mehr noch: Sie haben dem Begriff „ehrlich machen“ ein reflexives „sich“ spendiert und ihn danach in die Schatzkiste ihrer wertvollsten Floskeln gepackt.

Das Sich-ehrlich-Machen hat Tradition in der Politik

Wer hat sich nicht alles ehrlich gemacht in den vergangenen Jahren? Der Sprecher von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks zum Beispiel, als er 2014 zugab, dass im einzigen genehmigten Endlager Deutschlands viel mehr Atommüll rumliegt als bisher (verbal) eingeräumt. Die ehemalige NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, als sie im selben Jahr bekannte, dass Flüchtlinge in ihrem Land doch schwer misshandelt worden sind. Der damalige Verteidigungs- und heutige Innenminister Thomas de Maizière, als er 2011 kundtat, dass deutsche Soldaten im Ausland nicht nur „internationale Verantwortung“ übernähmen, sondern auch „nationale Interessen“ verträten. Oder der frühere Umwelt- und jetzige Kanzleramtsminister Peter Altmaier, der 2012 Bescheid gab, dass er sich am liebsten in allen Bereichen ehrlich machen wolle.

Und nun sogar Ronald Pofalla.

Der Befreiungsschlag der Bahn

Bereits neun Jahre nachdem der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering den damaligen CDU-Generalsekretär ultimativ zum Sich-ehrlich-Machen aufgefordert hatte (es ging darum, dass die Union seinerzeit Steuersenkungen wollte, die Sozialdemokraten diese aber nicht für umsetzbar hielten), geht Pofalla voll in die Glaubwürdigkeitsoffensive. Schon vor der Aufsichtsratssitzung der Bahn am Freitag soll der amtierende Infrastrukturvorstand des Staatskonzerns seinen Kontrolleuren ganz offen gesagt haben, dass man sich nun ehrlich machen wolle. Seither kostet Stuttgart 21 noch ein paar Hundert Milliönchen mehr, wird noch ein Jährchen später fertig und hat eine ehrliche Haut an der Spitze, die sich darum kümmert, dass alles stimmt, was den Leuten gesagt wird. Wenn das kein Befreiungsschlag ist . . .

Und falls es versehentlich doch noch einmal schieflaufen sollte mit der neuen Ehrlichkeit bei der Bahn, trösten wir uns mit dem wunderbaren Satz des 1988 verstorbenen Kabarettisten und Jugendbuchautors Oliver Hassencamp: „Wer lügt, hat die Wahrheit immerhin gedacht.“