Der Verzug bei Stuttgart 21 bringt die Pläne für Stadtentwicklung durcheinander, meint Lokalchef Jan Sellner. Die Stadt muss jetzt mehr selbst gestalten – besonders in der Wohnungspolitik.
Stuttgart - „Ein schlechter Tag für die Stadt“ – das war die Reaktion von Oberbürgermeister Fritz Kuhn auf die Nachricht von einer weiteren erheblichen Kostensteigerung und Bauverzögerung beim Großprojekt Stuttgart 21. In der Tat. Wer wollte ihm widersprechen. Die Stadt ist Leidtragende, auch wenn es ihr gelingt, Forderungen nach einer Kostenbeteiligung abzuwehren und den Deckel auf dem vereinbarten Anteil von 292 Millionen Euro zu halten.
Stuttgart zahlt trotzdem einen deutlich höheren Preis als ursprünglich gedacht. Dieser Preis besteht in Lärm und Dreck und Unzufriedenheit. Im Herzen der Stadt klafft eine riesige Wunde. Stuttgart sieht aus wie aufgeplatzt. Dieser hässliche Zustand wird frühestens Ende 2024 beendet sein – wenn viele der heutigen Viertklässler ihr Abitur in der Tasche haben und die jetzigen Endfünfziger kurz vor der Rente stehen. Der Oberbürgermeister, sollte er dann noch Kuhn heißen, wird fast 70 sein. Das nur nebenbei.
Man rechnet mit dem Schlimmsten und Teuersten
Das Bittere ist: Die Hiobsbotschaft, die am Mittwoch aus Kreisen des Bahn-Aufsichtsrats drang – zwei Wochen vor dessen nächster Sitzung am 13. Dezember –, hat fast niemanden überrascht. Nach den zahlreichen Zusicherungen, die sich als haltlos oder zumindest als nicht haltbar erwiesen haben, rechnet man bei Stuttgart 21 inzwischen automatisch mit dem Schlimmsten und Teuersten. Wenn aus 2024 irgendwann 2025 oder 2026 wird und aus 7,6 Milliarden am Ende zehn werden, dann wird auch das niemanden mehr überraschen. Der Vertrauensverlust, der damit einhergeht, ist das eine. Das andere sind die praktischen Auswirkungen: Stuttgart gerät aus dem Takt.
Am gravierendsten sind die Folgen für die Erschließung des Rosensteinquartiers und damit für die ohnehin lahmende Wohnungspolitik der Stadt. Wann die dort geplanten 7500 neuen Wohnungen zur Verfügung stehen, kann heute niemand verlässlich sagen. Trotzig, aber fast schon verzweifelt mutet die Ankündigung des Stuttgarter Oberbürgermeisters an, wenigstens einen Teil davon – 1500 Wohnungen – so schnell wie möglich auf frei werdenden Bahnflächen zu errichten.
Die Stadt muss jetzt mehr für den Wohnungsbau tun
Das Prinzip Hoffnung hilft in vielen Lebenslagen; in Zusammenhang mit Stuttgart 21 war es bisher wirkungslos. Das ist fatal, weil ein maßgeblicher Teil der Stadtentwicklung an dieses Projekt geknüpft ist – bis hin zur Internationalen Bauausstellung 2027, die, wenn’s ganz schlecht läuft, zu einer lokalen Baustellenausstellung schrumpfen könnte. Vor diesem Hintergrund muss die Stadt viel stärker gestaltend tätig werden und über das Rosensteinviertel hinaus Perspektiven für den Wohnungsbau entwickeln. Dies umso mehr, als hier Stuttgarts eigentliche Problemzone liegt. Aus dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum entwickelt sich soziale Unruhe in der Stadt.
Stuttgart 21 erscheint mehr denn je als Zukunftsprojekt. Mag sein, dass Bürger und Besucher eines Tages beim Anblick des neuen Tiefbahnhofs samt seiner Kelchstützen und Bullaugen ins Staunen geraten und – wie im Falle der Elbphilharmonie – aller Ärger in den Hintergrund tritt. Gegenwärtig jedoch blicken sämtliche Beteiligten in ein großes Loch.
jan.sellner@stzn.de