Eskalation im Schlossgarten: Polizisten treffen auf Stuttgart-21-Gegner Foto: Leserfotograf henner

Ob der Polizeieinsatz überhaupt rechtmäßig war, muss das Verwaltungsgericht noch klären.

Stuttgart - Am 30. September 2010 zeigt der Streit um S21 sein hässliches Gesicht. Die Lage eskaliert, die Polizei erlebt ein Desaster. Die Gretchenfrage hat die Justiz noch nicht beantwortet: War der Einsatz überhaupt rechtens? Klarheit gibt es wohl nicht vor Dezember.

Richter Eckhard Proske von der 5. Kammer des Stuttgarter Verwaltungsgerichts ist ein vielbeschäftigter Mann. Die Fälle stapeln sich, einer wichtiger als der andere. Eben hat er im Nachgang zum Amoklauf in Winnenden einem Heilbronner Waffenbesitzer per Urteil deutlich gemacht, dass er nicht nur unangemeldete Waffenkontrollen der Stadt dulden, sondern dafür auch Gebühren zahlen muss. Nicht weniger Zündstoff enthält ein Verfahren, das am 28. Oktober 2010 in Gang gesetzt wurde - und nichts weniger als die Frage beantworten soll, ob die Polizei an jenem Schwarzen Donnerstag womöglich rechtswidrig gegen Demonstranten vorgegangen ist.

Mindestens 184 Verletzte am Schwarzen Donnerstag

Beklagt ist das Land Baden-Württemberg als Dienstherr einer Polizei, die den Schutz des grundgesetzlich verankerten Versammlungsrechts verletzt haben soll. "Die Spontanversammlung hätte von der Polizei gar nicht aufgelöst werden dürfen", sagt der Freiburger Rechtsanwalt Frank-Ulrich Mann, der vier Verletzte unter den sieben Klägern vertritt, "und schon gar nicht mit diesen Mitteln." Die Polizei habe unverhältnismäßige Gewalt zur Durchsetzung von Baumfällarbeiten eingesetzt, die zu diesem Zeitpunkt nicht einmal genehmigt gewesen seien, so Mann. Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstock hatten mindestens 184 Verletzte gefordert.

Doch war die Blockade im Park eine Demonstration oder eine Straftat? Das Versammlungsrecht gesteht der Polizei ein Einschreiten zu, wenn diese "einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt" oder "durch den Verlauf der Versammlung gegen Strafgesetze verstoßen wird". Zudem kann die "zuständige Behörde" einen Aufzug auflösen, wenn dieser nicht angemeldet ist oder Auflagen zuwidergehandelt wird. Eine vom Regierungspräsidium Stuttgart mandatierte Stuttgarter Anwaltskanzlei hält also dagegen und will die Klage abgewiesen wissen.

Außerdem gibt es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1989 nach einem ähnlichen Polizeieinsatz in Gorleben: "Versammlungsteilnehmer müssen (auch) eine rechtswidrige Versammlungsauflösung zunächst hinnehmen. Widersetzen sich Teilnehmer der polizeilichen Anordnung, ist der Einsatz staatlicher Zwangsmittel grundsätzlich zulässig." Die daraus folgende Beeinträchtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit sei unvermeidlich.

Das "Land Baden-Württemberg" ist nicht mehr dasselbe

Alles klar? Dass Verwaltungsrichter Proske noch immer keine Verhandlung terminiert hat, hängt nicht nur mit der Belastung seiner Kammer zusammen, sondern auch mit dem komplexen Beweismaterial, das gesichtet werden muss. Hinzu kommt die brisante Frage: Wer streitet gegen wen?

Denn das "Land Baden-Württemberg" ist nicht mehr dasselbe - Schwarz-Gelb wurde von Grün-Rot abgelöst. Rainer Stickelberger, einst S-21-kritisches SPD-Mitglied im Untersuchungsausschuss, ist inzwischen Justizminister. Er lässt gewissermaßen gegen sich selbst prozessieren.

Freilich: Die Stuttgarter Anwaltskanzlei, die das Land vertritt, hat ihr Mandat behalten. Und eine Nachfrage des Richters ergibt: Das Land als beklagte Institution bleibt bei seiner bisherigen Rechtsauffassung. Im November will die 5. Kammer den Fall angehen. Der mündliche Verhandlungstermin ist, so Sprecherin Ulrike Zeitler, "frühestens im Dezember" zu erwarten.

Frank-Ulrich Mann, der Anwalt der Kläger, moniert derweil, dass in der Justiz noch immer mit zweierlei Maß gemessen werde. Eine 20-jährige Demonstrantin aus Ludwigsburg wurde jüngst wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, weil eine Polizistin beim Wegtragen Kreuzschmerzen bekommen hatte. Das Verfahren gegen einen glatzköpfigen Polizisten hingegen, der - in Internetvideos dokumentiert - auf Demonstranten einschlägt, wurde vom Staatsanwalt nunmehr eingestellt. Der Tatbestand einer Nötigung und Körperverletzung sei zwar erfüllt, heißt es, wegen einer Notwehrsituation aber gerechtfertigt gewesen.