Expertise im Grünen-Auftrag kommt auf 350 Millionen Euro - Harsche Kritik von SPD, CDU und FDP.

Stuttgart - Ein Ausstieg aus Stuttgart21 soll das Land mit 350 Millionen Euro ein Bruchteil dessen kosten, was die Bahn angibt. Diese Rechnung macht ein Gutachten im Auftrag der Grünen in der Landesregierung auf. SPD und CDU sprechen von "Mogelpackung" und Irreführung.

Vor der Volksabstimmung zu Stuttgart21 habe sich der "grüne Teil der Landesregierung in der Pflicht gesehen, genauere Informationen zu den Ausstiegskosten" zu liefern, sagte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) am Donnerstag. Man habe ein "seriöses Gutachten" in Auftrag gegeben, das auf 350 Millionen Euro komme und nicht auf 1,5 Milliarden Euro.

Die Summe von 1,5 Milliarden stamme von der Deutschen Bahn und sei für ihn "nicht nachvollziehbar", kritisierte Hermann. Er könne nicht verstehen, wie man sich im Land eine solche Position zu eigen machen könne, fügte er hinzu - ein klarer Seitenhieb auf den Koalitionspartner SPD, der mit den 1,5 Milliarden Euro derzeit Wahlkampf für die Volksabstimmung macht. "Wir Grüne in der Regierung sagen, dass wir die Ausstiegskosten möglichst gering halten müssen und nur das entschädigen, was nötig ist", so Hermann.

Das Gutachten der Firma Märkische Revision (MR) lässt die meisten Positionen in der 1,5-Milliarden-Euro-Ausstiegsrechnung der Deutschen Bahn inhaltlich unangetastet - kommt aber zu dem Schluss, dass nur ein knappes Drittel von 453 Millionen Euro als "echte Ausstiegskosten" gelten könne, wobei die Summe der drohenden "Ersatzansprüche" an das Land sogar nur 350 Millionen Euro samt Risikopuffer ausmache.

Der größte Streitfall betrifft die Rückabwicklung des Geschäfts, mit dem die Stadt Stuttgart im Jahr 2001 der Bahn im Vorgriff auf S21 nahezu alle frei werdenden BahnGrundstücke abkaufte. Entgegen der Darstellung des Konzerns sei die bei der Rückabwicklung samt Zinsen fällige Summe von 708 Millionen Euro für die Bahn "kein ersatzpflichtiger Schaden, da sie die Grundstücke ja zurückerhält", argumentiert MR-Gutachter Hans-Henning Schäfer. Er könne die Perspektive der Bahn aber auch nachvollziehen. "Das müssen am Ende die Gerichte entscheiden", meinte Schäfer.

Die Rückzahlung des Flughafen-Zuschusses von 115 Millionen Euro sei nicht ersatzpflichtig, weil die Bahn ohne S21 keinen Anschluss am Airport bauen müsse, sagen die Gutachter, denen das Verkehrsministerium "zugearbeitet" (Hermann) hat. Auch die 194 Millionen Euro für die Neubaustrecke nach Ulm seien nicht relevant, nachdem die Strecke auch ohne S21 gebaut werden könne.

453 Millionen Euro Ausstiegskosten lässt der Gutachter gelten. Davon werden aber nur jene Kosten als Forderung an das Land anerkannt, die 2007 nach Festlegung der Finanzierungsgrundsätze angefallen sind. Seither könne die Bahn "Vertrauensschutz" geltend machen, dass das Milliardenprojekt auch realisiert wird. Im Umkehrschluss bedeutet das für die MR, dass die Bahn 192 Millionen Euro Planungskosten aus der Zeit vor 2007 auch bei einem Projektstopp nach der Volksabstimmung selbst tragen muss.

Auch die von ihm als realistisch erachteten 350 Millionen Euro seien "viel Geld", bekannte Hermann. Wenn man jedoch an S21 festhalte und der Bahn später mitten im Tunnelbau das Geld ausgehe, sei das Land trotz der heutigen Festlegung, keine Mehrkosten zu zahlen, dennoch "erpressbar", warnte der Minister. Die Risiken zu bauen seien weitaus größer als die Risiken, nicht zu bauen. Für Hermann heißt es deshalb: "Lieber ein Ende mit überschaubaren Kosten als Kosten ohne Ende."

Nächste Woche will Hermann nachlegen und zeigen, dass S21 entgegen den Aussagen der Bahn bereits den Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro erreicht hat. Schon sein Gutachten zu den Ausstiegskosten stößt allerdings auf heftige Gegenwehr: Ingo Rust (SPD), Staatssekretär im Ministerium für Finanzen und Wirtschaft, wirft dem Kabinettskollegen vor, mit dem Gutachten "Verwirrung" zu stiften. So lasse die Expertise unberücksichtigt, was eine Alternative für S21 koste. Außerdem müsse man bedenken, dass neben der Bahn auch die Stadt Stuttgart und die Region bei einem Ausstieg des Landes eigene Ersatzansprüche hätten.

Claus Schmiedel, SPD-Fraktionschef im Landtag, nannte die MR-Rechnung eine "Mogelpackung voll mit Wunschträumen". Die Rechenkünste des Ministeriums erinnerten an eine Schrottbank, die Plus und Minus verwechsle. Die SPD gehe weiterhin von 1,5 Milliarden Euro Ausstiegskosten aus.

Für die CDU im Landtag sind die von Hermann genannten Kosten irreführend. Das Gutachten besitze keine Aussagekraft und sei lediglich "ein weiterer Täuschungsversuch" des Ministers. Auch die FDP im Landtag wirft Hermann vor, vor der Volksabstimmung mit Kalkül "Konfusion" anzurichten.