Der grüne Verkehrsexperte Winfried Hermann Foto: dpa

Der designierte Verkehrsminister Hermann will nicht Speerspitze der S-21-Protestbewegung sein.

Berlin - Er ist ein erklärter Gegner von Stuttgart 21 und will als neuer Verkehrsminister dennoch nicht die Speerspitze der Protestbewegung sein: Mit 58 Jahren übernimmt der Grünen-Parteilinke Winfried Hermann sein wohl schwierigstes Amt.

Herr Hermann, werden Sie der Totengräber des Projektes Stuttgart 21 sein?

Ich will vor allem die Zahlen, die Kosten und die Risiken dieses Projektes auf den Tisch bringen. Ich will alles tun, dass der Stresstest von Anfang an, einschließlich der Prämissen, transparent abläuft. Und ich will die Konsequenzen auf den Tisch bringen, wenn der Stresstest, wie von mir erwartet, zeigt, dass S 21, so wie bisher geplant, nicht funktioniert. Es wird zu umfangreichen Korrekturen kommen müssen, die sehr teuer sein werden. Ich werde alles tun, dass da nicht Kosten weggerechnet werden, sondern für alle Bürger einsehbar sind. Wenn der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro gesprengt wird, womit ich rechne, muss sich zeigen, ob die Bahn sich dieses megateure Projekt tatsächlich leisten will - denn sie müsste zahlen, nicht das Land. Und der Bund muss entscheiden, ob er das Kostenrisiko weiter trägt. Bahn und Bund sind nun nicht mehr von der Landesregierung getrieben, sondern können frei entscheiden, ob sie aussteigen und zum halben Preis den Kopfbahnhof modernisieren - mit besserem Nutzen für den Nah- und Fernverkehr.

Bleibt es bei den Kriterien für den Stresstest, oder ändern Sie zuvor die Anforderungen an Zeitplan und Gleise?

Das Wichtigste ist, dass ein sinnvoller Fahrplan nach den Bedürfnissen der Fahrgäste zugrunde gelegt wird. Die Infrastrukturdaten müssen realistisch und ehrlich sein. Denn von der Geschwindigkeit, die auf einer Strecke oder einer Weiche zu fahren ist, hängt die Leistungsfähigkeit des Bahnhofs ab. Nach vielen, vielen Modellrechnungen wird erkennbar, was passiert, wenn etwa ein Zug Verspätung hat oder eine Panne hat.

Tübingens OB Boris Palmer sagt, der achtgleisige Tiefbahnhof werde in der Spitze nur 40 statt geforderter 49 Züge verkraften. Zudem gilt der Bau eines 9. und 10. Gleises bahnintern als K.-o-Kriterium - streben Sie das an?

Die tatsächliche maximale Leistungsfähigkeit von 40 hat ein Vortest ergeben, ja. Wer für diese Infrastruktur einen geeigneten Fahrplan sucht, muss erst sämtliche Maßnahmen des Schlichterspruchs umsetzen, um überhaupt auf die Kapazität von 49 Zügen zu kommen - wohlgemerkt, das sind so viele Züge, wie der bestehende Kopfbahnhof bereits heute bewältigen könnte, wenn er voll ausgenützt würde. Es ist doch völlig absurd, für mindestens 4,5 Milliarden Euro den Bahnhof zu vergraben, der dann nie mehr erweiterbar wäre. Experten bezweifeln, dass das neunte und zehnte Gleis unterirdisch überhaupt realisierbar ist. Zumindest müsste zwingend ein neues Planfeststellungsverfahren her, was die Sache noch teurer macht.

Für das Land ist ein Ausstieg aus S 21 nur bezahlbar, wenn ihn die Bahn betreibt. Oder wäre eine Milliarde Schadenersatz realistisch?

Bahn-Chef Rüdiger Grube behauptet, dass der Bahn ein Schaden in Höhe von 1,4 Milliarden Euro entstehen würde. Er nennt sich einen ehrlichen Kaufmann, macht aber eine unehrliche Rechnung auf: Die Bahn hat von der Stadt Stuttgart Geld bekommen für all die Grundstücke, die sie später mal an die Stadt abgibt, heute aber noch als Gleisfeld nutzt. Zinsen musste die Bahn nicht bezahlen - es sei denn, das Geschäft platzt; dann muss die Bahn Geld und Zins zurückgeben. Tatsächlich hat die Bahn also ein zinsloses Darlehen für Grundstücke bekommen, die sie der Stadt nie übereignet hat. Das Rückabwickeln dieses nicht zustande gekommenen Geschäfts rechnet Grube als Kosten in Höhe von 700 Millionen Euro. Das ist nicht seriös.

Werden Sie vor dem Volksentscheid beziffern, wie hoch die Ausstiegskosten sind?

Ja sicher! Das hängt aber auch davon ab, ob die Bahn alle Gremien über die wahren Kosten informiert oder weiter schönrechnet. Bisher haben alle Gremien Beträge genannt bekommen, die deutlich unter den tatsächlichen Kosten lagen.

"Die Neubaustrecke ist gefährdet"

Halten Sie es für vertretbar, dass das Land 100 Millionen Euro für einen weiteren Bauaufschub bis zur Volksabstimmung zahlt?

Bisher konnte die Bahn nicht belegen, dass die Kosten so hoch liegen, wenn sie den Bau unterbricht. Grube hat für die CDU gekämpft; er hat trotz der anstehenden Wahlen, trotz der Bürgerproteste, trotz des sich andeutenden Regierungswechsels und trotz fehlenden Planfeststellungsverfahrens für den Flughafen-Fernbahnhof und den Abstellbahnhof Untertürkheim angefangen zu bauen. Die Bahn als Bauherr ist das Risiko also selbst eingegangen und kann das jetzt nicht dem Land Baden-Württemberg ans Bein binden.

Wird es irgendwann einen Flughafen-Fernbahnhof geben, der das Passagieraufkommen von zwei Startbahnen auffangen kann?

Das Konzept für den Flughafen-Fernbahnhof war in der Tat für das Passagieraufkommen eines Airports konzipiert, der zwei Start-und-Lande-Bahnen hat - so wie es der Flughafen früher mal selbst wollte, um mit Frankfurt und München zu konkurrieren. Inzwischen ist klar, dass es eine zweite Start- und-Lande-Bahn nicht geben wird - das steht auch ausdrücklich in unserem Koalitionsvertrag. Da wäre es doch eine verrückte Geldverschwendung, für einen Flughafen von regionaler Bedeutung mit einigen europäischen Zielen einen zweiten Fernbahnhof zu bauen, wo doch der bestehende eine Nahverkehrsbahnhof schon nicht ausgelastet ist. Es stimmt, dass der Flughafen eine bessere Bahnanbindung braucht; aber das geht mit anderen Mitteln viel kostengünstiger.

Wenn S 21 fällt, gerät die Wirtschaftlichkeit der Strecke Wendlingen-Ulm ins Wanken. Fiele mit S21 auch diese Trasse?

Die Wirtschaftlichkeit dieser Neubaustrecke ist ohnehin grenzwertig und wurde nur erreicht, indem 16 leichte Güterzüge mit hineingerechnet wurden, die es nicht gibt. Natürlich wäre die Neubaustrecke gefährdet, wenn Stuttgart 21 fällt - aber wenn die Strecke für Güterzüge taugen würde, hätte sie eine neue Chance. Es wäre auch sinnvoll, die Neubaustrecke an den Kopfbahnhof anzubinden.

Wenn die Bundesmittel für S21 wegbrächen, könnten dann andere Verkehrsprojekte gefördert werden?

Weder für Stuttgart 21 noch für Wendlingen-Ulm liegen die Bundesmilliarden im Säckel. Das wird noch ein Riesenproblem, wie der Bund seinen Anteil finanziert. Klar ist, dass aus Sicht des Landes Baden-Württemberg in jedem Fall im Rheintal dringender Handlungsbedarf besteht und dort schneller und anwohnerfreundlich, also lärmschonend, gebaut wird. Ich werde als Verkehrsminister alles tun, dass jeder Euro, der für Baden-Württemberg vorgesehen war, auch nach Baden-Württemberg fließt. Es gibt das Rheintal, Ulm-Wendlingen, die Gäubahn, die Südbahn - also viele Projekte, für die wir Bundesmittel brauchen. Wir müssen das Geld nicht bei Stuttgart 21 vergraben.

Neben allen Zahlen, Kosten und Risiken dieser Verkehrsprojekte ist Ihre Glaubwürdigkeit ein ebenso wichtiges Kriterium. Sie haben den Bürgern Teilhabe zugesagt - empfinden Sie das als Motivation oder auch als Bürde?

Das war genau die Grundsatzfrage für meine Entscheidung, Verkehrsminister zu werden. Ich bin überzeugt, dass es in Baden-Württemberg nur zum Regierungswechsel gekommen ist, weil es diese Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21, gegen Stefan Mappus und dessen Von-oben-herab-Politik mit Polizeigewalt gab. Der Atom-GAU von Fukushima war das i-Tüpfelchen. Die Erwartungen an uns sind riesengroß; aber wir müssen nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Grünen nicht 50 Prozent, sondern 24 Prozent der Stimmen bekommen haben.

Drum also kein Ausstiegsbeschluss im Koalitionsvertrag?

Die SPD hat uns in den Verhandlungen um Stuttgart 21 alle halbe Stunde daran erinnert, dass dort unten im Landtag 75 Prozent Abgeordnete sitzen, die für Stuttgart 21 sind. Wir konnten keinen Vertrag machen, in dem steht: "Wir steigen aus dem Projekt aus", weil die SPD an ihm festhält. Deshalb haben wir uns auf Kostentransparenz verständigt, auf den Stresstest, den Kostendeckel und die Volksabstimmung. Darauf kann ich mich als Demokrat einstellen. Das Wesen und der Preis der Demokratie sind ständige Kompromisse. Wir müssen Mehrheiten akzeptieren. Als Verkehrsminister bin ich nicht die Speerspitze der Anti-Stuttgart-21-Bewegung. Vielmehr ist es meine Aufgabe, für die Landesregierung die Zahlen auf den Tisch zu legen und die Bevölkerung so gut zu informieren, dass sie eine sachliche Entscheidung treffen kann. Das traue ich mir zu, das will ich tun, aber ich will nicht, dass die Bürger getäuscht werden durch schöngerechnete Zahlen und Kostenrisiken, die heute schon absehbar sind.