Forscher nutzen die Aushubarbeiten am Hauptbahnhof in Stuttgart für ihre Arbeit. Sie suchen nicht nur nach historischen Gegenstände, sondern analysieren auch Bodenproben – und kommen zu überraschenden Erkenntnissen.
Stuttgart - Wie entstand die Stadt Stuttgart? Wie haben die ersten Menschen im Talkessel gelebt? Was ist in den Jahrtausenden passiert? Auf diese Fragen suchen nicht nur Historiker und Archäologen Antworten, sondern auch Bodenkundler. Wie Detektive können sie aus Spuren im Boden landschafts- und siedlungsgeschichtliche Entwicklungen ablesen – auch in Stuttgart. Seit mehr als zwei Jahren untersuchen die Experten das Erdreich im Talkessel, das durch die S-21-Arbeiten zugänglich wird, und blicken so zurück auf eine Zeitspanne von 12 000 Jahren. „Wir bekommen neue Perspektiven zum Verständnis der Vergangenheit“, sagt der Bodenkundler Andreas Lehmann von der Universität Hohenheim. So gibt es bereits neue Erkenntnisse zum Kohleabbau am Kriegsberg im 17. Jahrhundert. Und es kann neuerdings nicht mehr ausgeschlossen werden, dass sich im Talkessel schon 4000 vor Christus Menschen angesiedelt haben. Doch das sei nur der Anfang, sagt Lehmann.
Arbeit in der Baugrube
Der Wissenschaftler steht mit schwerem Schuhwerk in der S-21-Baugrube im Zentrum Stuttgarts. Im Hintergrund grüßt die komplizierte Schalkonstruktion, in der die Kelchstützen des Architekten Christoph Ingenhoven wachsen. Lehmann balanciert am Rand eines 20 Meter langen und fast zwei Meter tiefen Grabens, den ein Kleinbagger eigens für das Team des Wissenschaftlers ausgehoben hat.
In das freigelegte Erdreich werden sanft U-förmige Schienen gedrückt, in die der Boden gepresst wird wie die Wurst in die Pelle. Aneinandergelegt zeigen die Schienen den Aufbau des Bodens über mehrere Meter hinweg. Und was für Laien wie eine Stange belanglosen braunen Drecks aussieht, soll den Experten der Universitäten Hohenheim, Tübingen und Mainz eine spannende Geschichte erzählen – die Geschichte der Entstehung Stuttgarts.
Aufwändige Untersuchungen
An diesem Nachmittag geht es darum, die Proben zu entnehmen und zu sichern. Darin finden sich Schwermetalle, Pollen und Reste von organischen Materialien, die später an den Universitäten in aufwändigen Verfahren analysiert werden. Dabei ist die Schichtung wichtig: je tiefer ein Material im Boden ist, desto älter ist es. Das alles lässt Schlüsse über die Landschafts- und Kulturgeschichte des Talkessels zu, die weit über das hinausgehen, was wir heute wissen.
„Wir haben einen Zeitraum bis 10 000 Jahre vor Christus im Blick“, sagt Lehmann. Das Areal zwischen dem Bahnhofsturm und dem Planetarium gilt als „sehr interessante Stelle“. Der Nesenbach und seine Seitenbäche haben nämlich den Talkessel regelmäßig überflutet und schwemmten Sedimente an, Hangrutschungen sorgten für weiteres Material, das sich bis heute konserviert hat. Andreas Lehmann jedenfalls ist begeistert. „Das ist eine regelrechte Sedimentfalle“, sagt der Jäger des geborgenen Bodens.
Auch Bohrkerne im Blick
Dabei war das keineswegs geplant. Im Planfeststellungsbeschluss für die S-21-Arbeiten im Mittleren Schlossgarten war vor mehr als einem Jahrzehnt von „geringwertigen, stark gestörten Böden“ die Rede, die eine besondere archäologische Baubegleitung nicht nötig machten. Eine Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte (und nicht die einzige bei S 21). Schließlich wurden auf der Großbaustelle nach und nach wichtige Funde gemacht (siehe nebenstehenden Text). Doch diese Gegenstände sind nur ein Teil des Archivs, das sich im Boden findet. DieBohrkerne, die auf dem S-21-Gelände zur Untersuchung des Baugrunds niedergebracht werden und die von den Bodenkundlern ebenfalls ausgewertet werden können, bergen weitere Informationen – und weil sie tiefer reichen als die Grabungsarbeiten auch solche, die bis 10 000 Jahre vor Christus reichen.
Der Inhalt des Erdschichten lässt nach Untersuchungen – etwa von Isotopen und deren Zerfall oder durch Pollenanalysen und molekulare Biomarker – Aussagen zu, wann der Nesenbach durch Hochwasser welche Stoffe eingetragen hat, welche klimatischen Verhältnisse herrschten und ob es menschliche Einflüsse gab – etwa durch Verbrennung von Holz oder Düngung. Dabei gibt es durchaus die Hoffnung, anhand der Pollenanalysen bestimmte Pflanzen zu identifizieren, die wie Spitzwegerich auf Aktivitäten des Menschen hinweisen.
Kohleabbau am Kriegsberg
So ist mittlerweile bestätigt, dass es im Mittleren Schlossgarten vom 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zahlreiche Überschwemmungen durch den Nesenbach gab (was auch die Funde der Kanalüberreste erklärt). Und dem Rätsel, warum sich hohe Vanadium-Konzentrationen – ein Hinweis auf Kohlebergbau – in vergleichsweise jungen Erdschichten im Talkessel fanden, kamen die Wissenschaftler erst auf die Spur, als sie auf einem Kolloquium den Stuttgarter Historiker Harald Schukraft trafen. Der wies sie darauf hin, dass es am benachbarten Kriegsberg geringmächtige Kohleflöze gab, die Herzog Friedrich I. ab 1596 ausbeuten ließ, um Brennstoff zu haben. 1623 wurden die Stollen stillgelegt, weil sie nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben waren. Die Gesteinsreste wurden aber wohl für Aufschüttungen bei der Erweiterung des herzoglichen Lustgartens im Talkessel verwendet – das haben die Experten beim Studium historischer Karten nun entdeckt.
Feuer für die Jagd
Bei anderen Ergebnissen der Pollenanalyse befinden sich die Wissenschaftler noch auf schwankendem Erkenntnisboden. So wurde bereits eine hohe Anzahl an verkohlten Pflanzenresten aus einer Zeit um 8500 vor Christus festgestellt. Da sie kaum von Waldbränden stammen können, ist denkbar, dass sie von Bränden stammen, die zur mittelsteinzeitlichen Jagd gelegt wurden. Die Pollenuntersuchungen werden in Hohenheim weiter geführt und lassen noch weitere Überraschungen erwarten.
„Die frühen Einflüsse der Menschen sind größer als bisher angenommen“, sagt Andreas Lehmann. Er hofft, dass es weiter Geld für das interdisziplinäre Projekt gibt. Zumal die S-21-Arbeiten es ermöglichten, weitere Proben von den spannendsten Bereichen der ursprünglichen Nesenbachaue zu entnehmen. Danach seien die Informationen „unwiederbringlich verloren“, weil der Boden abgegraben und deponiert ist. Die aktuelle Chance auf einen mehr als 10 000 Jahre zurück reichenden Blick dürfe sich eine Stadt nicht entgehen lassen, mahnt er. Denn: „Der Stadtboden ist ein Archiv, dessen vielfältige Informationen über die schriftliche Zeit hinaus reichen.“