Haben Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 mit manipulierten Artenschutz-Befunden falsche Spuren gelegt? Für die Bahn ist ein Flaschenfund in einem Baum ein verräterischer Hinweis.
Stuttgart - Die Überraschung steckt in einem Baum mit der Nummer 100163. Der Forstingenieur und Käfer-Sachverständige aus Leipzig hätte vielleicht eine erloschene Besiedlung oder andere Spuren eines Rosenkäfers im Holz erwartet. Immerhin lagen ja Kotpillen am Stamm. Doch dann, die Robinie ist bereits auf einen halben Meter gekürzt, taucht da im Innern eine Bierflasche auf. Voll gefüllt mit Mulm, dem Humus und Lebensraum von Käfern, vermischt mit Kot und Chitinresten von Rosenkäfer, Goldkäfer und Balkenschröter.
Wie kommt eine Flasche mit artenschutzrechtlich bedeutsamem Material in einen Baum? „Die dürfte wohl durch das Loch der zweistämmigen Robinie in die Baumhöhlung hinuntergefallen sein“, sagt der Mann, der für die ökologische Bauüberwachung bei den Fällungsarbeiten zuständig ist und namentlich lieber nicht genannt werden will. Die Kotpillen am Stamm seien nicht auf natürlichem Wege dorthin gekommen. Denn der Baum hat nichts, was auf eine Käfersiedlung hinweisen würde. Hatte ein Bahngegner das Material verstreut, bis ihm die Flasche versehentlich aus der Hand gerutscht war? Wollte er damit die Arbeiten für das künftige Rosensteinportal des Bahnprojekts Stuttgart 21 weiter verzögern?
Für die Bahngegner eine „absurde Räuberpistole“
Wer gedacht hat, dass das zweieinhalb Jahre dauernde Ringen um sechs sogenannte Juchtenkäfer-Verdachtsbäume im Rosensteinpark mit der Fällung der insgesamt 100 Bäume diese Woche beendet worden sei – der irrt. Denn nun wirft die Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm ihren Gegnern Täuschung vor: „Der Vorgang zeigt, dass es nicht nur theoretisch möglich ist, artenschutzrechtliche Befunde zu manipulieren, sondern dass dieser Versuch nachweislich unternommen wurde“, sagt Projektsprecher Jörg Hamann. Für ihn ist die Flaschenpost ein Alarmsignal: „So eine Aktion nährt den Verdacht, dass möglicherweise auch an anderer Stelle manipuliert worden sein könnte.“
Dieter Reicherter von „Juristen zu Stuttgart 21“, die das Projekt kritisieren, schloss aus, dass Vertreter von Parkschützern oder anderen Gruppen an einer solchen Manipulation beteiligt sein könnten. „Ich wehre mich dagegen, dass uns etwas untergeschoben wird, was mit den Fakten gar nichts zu tun hat.“ Und Fakt sei, dass der Juchtenkäfer-Verdacht bereits vor Jahren von Fachleuten festgestellt worden sei. „Das hat dann doch nichts mit einer Flasche zu tun“, so Reicherter. Das lange Genehmigungsverfahren bis hinauf zur EU habe eine andere Grundlage. Fachleute hätten den Juchtenkäfer-Verdacht bereits vor Jahren festgestellt. Thomas Adler, Stadtrat der Linken, spricht von einer „lancierten absurden Räuberpistole“.
Tatzeit lässt sich nicht eingrenzen – nur bis Januar 2014
Wann die Flasche in den Baum kam, ist unklar. Sicher ist nur: Bis zum Januar 2014 hatten Gutachter die 1500 Bäume im Rosensteinpark kartiert und unter anderem sechs Verdachtsbäume zwischen dem künftigen Tunnel und der neuen Neckarbrücke identifiziert. Baum Nummer 100163, die Robinie, zählte nicht dazu. Bis Ende Januar 2018, also vor gut zwei Wochen, als der Sachverständige aus Leipzig die Bäume nochmals begutachtete. Und da lag eben der Käferkot vor der Robinie.
Die Flasche gibt keinen Hinweis auf das Alter. Ein weiterer zerbrochener Rest einer Bierflasche aus dem Baum hat noch verwitterte Reste eines Etiketts. Doch das Mindesthaltbarkeitsdatum und die entsprechende Jahreszahl sind nicht mehr zu erkennen. Was aber sollte die mutmaßlich gelegte falsche Käferspur bezwecken? „Die Rotbuche unmittelbar daneben ist ja tatsächlich ein Brutbaum des Rosenkäfers gewesen“, sagt der Sachverständige mit 20-jähriger Erfahrung. Dieser Baum mit der Nummer 100162 hatte nachweislich Larven, die nun in drei Eimern bis zum Sommer gelagert und dann später im Park eine neue Heimat finden sollen. Der für das Baufeld im Rosensteinpark zuständige Teamleiter Sebastian Heer stellt fest, dass die Gutachter von 2014 nicht dieselben waren wie die jetzige ökologische Bauaufsicht. Der Rosenkäferbaum wurde damals von einem Heidelberger Unternehmen als verdächtig identifiziert, unter anderem weil der Befund von Rosenkäfern generell auch die Anwesenheit von Juchtenkäfern, die besonders streng geschützt sind, nahelegt. Außerdem habe es Blitz- und Sturmschäden sowie große Höhlungen an Rosenkäfer-Baum 100162 gegeben. Nur einen Juchtenkäfer, das sagt der S-21-Mitarbeiter Heer mit Bedauern, „haben wir leider nicht finden können“. Weil es nun wieder keine Erfahrungswerte für andere Projekte gebe.
Die Bahn will rechtliche Schritte prüfen
Für die Bahn-Projektgesellschaft hat der verdächtige Flaschenfund Bedeutung über Bahnprojekte hinaus. „Das Signal dieser Aktion ist doch auch, dass man offenbar mit verstreuten Kotpillen und Insektenteilen jedes größere und kleinere Bauprojekt verzögern oder gar blockieren kann“, sagt Sprecher Hamann. Die Bahn werde rechtliche Schritte prüfen. „Dabei könnte es vor allem um zivilrechtliche Belange gehen“, sagt er, „denn es ist wohl kein Straftatbestand, Insektenkot wo auch immer zu verstreuen.“ Bei der Polizei, sagt Sprecher Olef Petersen, „ist noch keine offizielle Anzeige eingegangen“.
Woher stammt das Käfermaterial überhaupt? Das zu besorgen sei kein Problem, sagt der Käfer-Fachmann. Fast überall gebe es alte gefällte Bäume mit morschen hohlen Stammpartien und Baumstümpfe, auch auf Streuobstwiesen. Wer Besiedlungsspuren erkenne, „kommt da problemlos ran“, sagt er. Ein Fachmann muss es also gewesen sein. Nur einer, der wohl mit Bierflaschen nicht so geübt ist.