„Wehrt Euch“ steht auf der Wand eines Wohnhauses in der Urbanstraße in Stuttgart. Noch wissen die Bewohner nicht, ob sie während der Tunnelarbeiten für Stuttgart 21 ausziehen müssen. Foto: Piechowski

Die Bahn will neues Verfahren finden, das die Entschädigung beim Tunnelbau regelt.

Stuttgart - Für ihr Projekt Stuttgart 21 und die in Wendlingen anschließende Neubaustrecke nach Ulm braucht die Bahn AG je rund 3000 Grundstücke. Einen Teil davon muss sie kaufen, weil die Strecke, Zufahrten oder andere technische Einrichtungen darauf gebaut werden.

Für den anderen Teil muss sie eine Entschädigung zahlen, weil unter diesen Grundstücken Tunnel gegraben werden. Die Existenz der Röhren wird als Belastung im Grundbuch dokumentiert. Für die Eigentümer stellt sich die Frage, wie hoch diese Entschädigung sein wird – und ob bei größerer Tiefe überhaupt noch Geld fließt.

Gängig sind zur Ermittlung der Entschädigung das Münchner oder Sellner Verfahren. Das erste Rechenmodell stammt aus den Zeiten des U-Bahn-Baus zu den Olympischen Spielen in München, das zweite aus Frankfurt. Die Bahn setze auf das Münchner Modell, erläuterte am Mittwoch der von der Bahn beauftragte Rechtsanwalt Josef-Walter Kirchberg im voll besetzten Saal des Haus- und Grundeigentümervereins in der Gerokstraße 3. Die Bahn habe aber einen Sachverständigen beauftragt, um „die Anwendbarkeit des Münchner Modells auf Stuttgart in allen Fällen zu untersuchen“. In vier Wochen erwarte man Ergebnisse. „Wir wollen ein objektives Verfahren“, sagte Kirchberg, der ein Rechenbeispiel gab.

„Man kann nicht reich werden mit der Entschädigung“

Die Entschädigung wird grundsätzlich anhand des Grundstückswerts ermittelt. Ob die Fläche bebaut ist, spielt keine Rolle, Immobilien werden also nicht berücksichtigt. Würde ein 500 Quadratmeter großes Grundstück bei einem Bodenwert von 1000 Euro pro Quadratmeter von einem nur in zehn Meter Tiefe liegenden Tunnel komplett beansprucht, könnten die Eigentümer 28.750 Euro erhalten, rechnete Kirchberg vor.

Die Summe verwunderte einige der rund 80 Grundeigentümer im Saal. Die mit den Verhandlungen beauftragte Landsiedlung habe in ihrem Fall nur 3000 Euro genannt, meldete sich eine Frau, „und unser Grundstück wird zu zwei Dritteln untertunnelt“. Sein Beispiel sei nicht ganz passend, räumte Kirchberg ein. „Man kann nicht reich werden mit der Entschädigung“, sagte der Jurist – und dass die Werte vorläufig seien.

Vorläufig deshalb, weil die Münchner Entschädigungstabelle nur bis zu einer Tiefe von 15 Metern reicht. Für die Stuttgarter Hanglage, die schnell zu Tunneltiefen, also zu einer Gesteinsüberdeckung von 40 und mehr Metern führt, passen die Tabellen aus Bayern nicht. Wegen der großen Tiefen in Stuttgart werde es vermutlich Abschläge geben, sagte Kirchberg auf Anfrage unserer Zeitung. Dies solle der Bahn-Gutachter untersuchen.

Um die von der Bahn bisher genannten 4,1 Milliarden Euro Baukosten für Stuttgart 21 zu halten, muss der Konzern sparen. Möglichkeiten dazu sieht die Bahn beim Thema Grundstückskäufe und Entschädigungen. Insgesamt sollen hier laut Unterlagen aus der Stuttgart-21-Schlichtung 129,9 Millionen Euro weniger als geplant ausgegeben werden. Davon 22 Millionen weniger für Entschädigungen von Privateigentümern.

„Wir werden der Bahn keinen Freibrief geben“

Das Münchner Verfahren sei für den Haus- und Grundbesitzerverein „nicht in Stein gemeißelt“, sagte dessen Geschäftsführer Ulrich Wecker. Der Verein überlege, ob er ein Musterverfahren „durch die Instanzen treiben“ werde. „Das wären wir unseren 20.000 Mitgliedern schuldig“, so Wecker, der selbst Jurist ist. Man wolle „ohne Prozess durchkommen“, sagte Kirchberg.

Wecker fordert von der Bahn, Entschädigungstabellen zu veröffentlichen und eine Mustervereinbarung für die Entschädigungen zu konzipieren. Nötig seien für die betroffenen Eigentümer außerdem ein Bauzeitplan und rechtzeitige Informationen darüber, wann die Baustelle das eigene Grundstück erreichen werde.

Für Mitglieder, die ihre Häuser aus Sorge vor möglichen Schäden durch den Tunnelbau begutachten lassen wollen, hat der Verein selbst einen Gutachter benannt. Wessen Eigentum von der Bahn in deren Beweissicherungsprogramm aufgenommen wurde, kann die vom Bahn-Experten erstellten Papiere überprüfen lassen. „Wir werden der Bahn keinen Freibrief geben“, sagte Wecker. Auch das Vereinshaus in der Gerokstraße 3 ist übrigens vom Tunnelbau betroffen.

„Wo gebaut wird, passiert auch mal was“, räumte Kirchberg mögliche Schäden ein. Um Streitfälle zu vermeiden, würden Gebäude vor dem Bau begutachtet. Aktuell gleiche die Landsiedlung die Eigentumsverhältnisse für die Bahn ab. Die Unterlagen des Konzerns stammten aus dem Jahr 2004. Der Tunnelbau soll voraussichtlich 2013 beginnen.