Mitarbeiter im Wolfsburger VW-Werk: Autohersteller sind klassische Schichtbetriebe. Foto: dpa

Eine wissenschaftliche Studie im Auftrag der IG Metall beleuchtet die gesundheitlichen Schäden von Beschäftigten, die in ständig wechselnden Schichten arbeiten. Die Gewerkschaft will daraus Konsequenzen ziehen – tarif- und betriebspolitisch.

Stuttgart - Man stelle sich nur kurz vor, Nachtschichten würden plötzlich verboten – die deutsche Industrie würde sofort kollabieren. Nachtarbeit ist längst unverzichtbar. Nicht zuletzt wegen der globalen Verflechtungen werden die flexiblen Arbeitssysteme in der Produktion immer mehr ausgeweitet – verstärkt auch auf die Wochenenden.

In den Branchen der IG Metall arbeitet knapp ein Drittel der Beschäftigten im Schichtbetrieb. Zu zwei Dritteln sind sie in Früh- und/oder Spätschicht, fast 28 Prozent im Dreischichtbetrieb mit Nachtschicht sowie vier Prozent in Dauernachtschicht tätig. Erstmals in diesem Umfang hat die Gewerkschaft die Belastungen der Betroffenen wissenschaftlich analysieren lassen. Zwei Jahre lang befragte Thomas Langhoff, Professor für Arbeitswissenschaft an der Hochschule Niederrhein, insgesamt 2667 Beschäftigte aus dem Südwesten. Erkenntnis: Mit zunehmender Dauer der Schichtarbeit erreichen immer mehr Betroffene ihre Leistungsgrenzen. In den ersten fünf Jahren sind es 42 Prozent, nach mehr als 20 Jahren sind es schon zwei Drittel. Kommt Nachtarbeit hinzu, steigen Leistungsdruck und Gesundheitsbeschwerden noch deutlich an. 70 bis 80 Prozent leiden etwa unter allgemeiner Erschöpfung, Schlafstörungen oder Rückenschmerzen. Gerade infolge von Nachtschichten zeigen sich zudem ein erhöhtes Risiko von Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Erkrankungen bis hin zu Krebs sowie psychische Belastungen. „Der Körper gewöhnt sich niemals an Nachtschichten“, betont der Wissenschaftler.

Möglichst kurze Schichtblöcke, rät er Wissenschaftler

Trotz der Vorschriften im Arbeitszeitgesetz achte niemand darauf, die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse zur Schichtplangestaltung umzusetzen. „Die wenigsten Arbeitgeber kommen dieser Verpflichtung nach, und eine Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden findet faktisch nicht statt“, tadelt Langhoff. Wo Nachtschichten nicht zu vermeiden seien, sollten möglichst kurze Schichtblöcke mit wenig Nachtarbeit und ausreichenden Ruhephasen eingeplant werden, empfiehlt er.

Bezirksleiter Roman Zitzelsberger stellt mit Verweis auf die jüngste bundesweite Umfrage der IG Metall fest, dass die Zufriedenheitsquote der Schichtarbeiter durchweg geringer sei als im Schnitt der Belegschaften. Dass die Arbeitgeber immer mehr Flexibilität verlangten, mute angesichts der neuen Erkenntnisse geradezu zynisch an. „Wir stellen nicht die Betriebsnutzungszeiten per se infrage“, sagt Zitzelsberger. Aber wo der Schichtbetrieb nicht zu verhindern sei, müsse er gestaltet werden.

Ziel der IG Metall ist eine „verkürzte Vollzeit“

Der Arbeitgeber stehe in erster Linie in der Verantwortung, Verbesserungen zu initiieren. „Er muss an der Spitze der Bewegung stehen.“ Andernfalls müsse die IG Metall „Ausweichmechanismen“ im Flächentarif organisieren. Dazu zählt der Plan, Schichtarbeitern in der nahen Tarifrunde einen individuellen Anspruch auf „verkürzte Vollzeit“ zu erkämpfen. Konkret geht es um mehr Freiräume bei der Festlegung von Freischichten mitsamt Rückkehrrecht zur 35-Stunden-Woche – das Ganze kombiniert mit einem Teilentgeltausgleich, damit sie dies finanziell verkraften können.

Dies wirft auch ein Schlaglicht auf das Dilemma, in dem die Gewerkschaft vor Ort steckt: Viele Beschäftigte wollen ungeachtet möglicher Gesundheitsrisiken nicht aus den Schichtsystemen aussteigen. Zu lukrativ sind die Zulagen. Und meistens haben sie ihr Privatleben einigermaßen an den oft wechselnden Schichtrhythmus angepasst. Beispielhaft schildert Frank Zehe, Betriebsratsvorsitzender der Badischen Stahlwerke in Kehl, wie die 850-köpfige Belegschaft von einem rollierenden System mit jeweils sieben Nacht-, Spät- und Frühschichten plus Freizeit zu einer großen Vielfalt gekommen sei – gegen die Widerstände von Vorgesetzten und Kollegen. „Heute planen wir jedes Jahr mehr als 150 verschiedene Schichtpläne“, berichtet er.

Viel Überzeugungsarbeit bei Bosch in Reutlingen nötig

Ähnlich hat Thorsten Dietter, Betriebsratsvize bei Bosch in Reutlingen, vom Arbeitgeber lediglich Initiativen zur Kostenreduzierung, nicht aber zur Verbesserung der Gesundheit erlebt. Auch in seinem Werk, in dem sieben Tage rund um die Uhr produziert wird, war viel Überzeugungsarbeit nötig. Heute jedoch begrüßt die große Mehrheit ein System mit je zwei Früh-, Spät- und Nachtschichten plus sechs freien Tagen, das als weniger belastend empfunden wird. Ideal wäre es, so Dietter, ab 50 Jahren keine Schichtarbeit mehr leisten zu müssen. „Eine bezahlte Arbeitszeitverkürzung ab einem bestimmten Lebensalter wäre eine große Nummer“, findet er.